Wie ich damit klarkäme. Umginge. Nein, dieses "Damit" brauchte keine Erklärung. Nicht in dieser Woche, nicht in dieser Stadt: Klarkommen. Umgehen. Kann man das überhaupt?

Ja, das hier ist eine Laufkolumne, kein Ratgeberblog. Nicht für normale, banale Alltagsfragen – und schon gar nicht für den Ausnahmezustand.

Trotzdem kommt die Frage. Das ist legitim und gut so. Nicht weil mir irgendwer mehr oder andere Deutungs- oder Lösungskompetenzen zutraut als anderen. Nicht weil ich sie mir anmaße – sondern weil die Frage allein schon hilft. Manchen. Vielleicht sogar vielen: Wer darüber redet, fühlt sich nicht so allein, so ohnmächtig.

Vielleicht steckt ja in jeder individuellen, jeder persönlichen Antwort doch ein Körnchen von dem, was einen selbst weiterbringt. Und wenn der (oder die) Gefragte auch keine Antworten hat, ist das eventuell ja auch tröstlich: Nein, es liegt nicht an mir, dass ich damit nicht klarkomme. Damit nicht umgehen kann. Das ist normal. Und das zuzugeben ist okay.

Foto: thomas rottenberg

Trotzdem versuche ich zu antworten: Rausgehen hilft. Mir jedenfalls. Nicht weil es irgendetwas ungeschehen macht. Menschen oder Kugeln zurückholt. Oder weil irgendwo ein Reset-Button versteckt ist. Trotzdem: Draußen sein, Bewegung hilft. Bei mir sind es Radfahren und Laufen. In Nicht-Lockdown-Zeiten wäre es auch Schwimmen. Die langen, gleichmäßigen, auf den ersten Blick eintönigen Einheiten. Das ist gutes, willkommenes Alleinsein, selbstgewählte Sprachlosigkeit. Das tut mir nicht weh, sondern gut.

Der Flow, die Gleichmäßigkeit, das gebetsmühlenartige Mantra des Kurbelns beschützt mich. Holt mich raus. Bannt böse Geister. Zumindest für den Moment – aber meistens auch länger: Laufen, Radfahren, Schwimmen – das kann Meditation sein.

Foto: thomas rottenberg

Nein, Antworten auf die Warum-Fragen bringt das nicht. Aber die guten Bilder von unterwegs helfen. Sie übermalen, löschen oder verdecken die bösen nicht (das sollen sie auch nicht), aber dem Unerträglichen steht jetzt etwas gegenüber. Etwas, das sagt und zeigt, dass es Gutes gibt. Mitgefühl. Das Wissen, dass die Welt schön ist. Zu schön und wertvoll, um sie jenen zu überlassen, deren Hass nichts anderes zulassen kann.

Die guten Bilder sind wichtig. Sie zeigen, dass wir mehr sind. Ja, das Böse, das einer tut und vielen wehtut, fördert am Rande manchmal Gutes zutage: Wenn die Vielen ihren Schmerz zeigen, sind wir mit unserer Trauer, unserer Sprachlosigkeit nicht allein. Das tröstet. Das hilft: Als ich Dienstagnacht rausging, eine Radrunde auf der Donauinsel drehte, waren da Menschen. Viele. Mehr als sonst. Am Rad. Laufend. Gehend. Manche schauten einfach auf den Fluss. Zwei Frauen hatten eine Kerze zwischen sich auf eine Bank auf der Freudenauer Kraftwerksmauer gestellt. Zufall? Kaum.

Foto: thomas rottenberg

Deshalb sind Blumen und Kerzen wichtig. Das weiß ich. Gespürt habe ich es aber noch nie – bis ich Sonntagfrüh, kurz vor sechs Uhr morgens, in die Judengasse einbog: Ich hatte Kerze und Zündhölzer dabei.

Der Anblick raubte mir den Atem: Da brannten hunderte, vielleicht tausende Kerzen. Um sechs Uhr in der Früh. Viele waren frisch. Kaum eine ausgegangen: Die ganze Nacht über mussten Menschen hier vorbeigekommen sein. Der Anlass war schrecklich – aber die Botschaft gut: Wir sind nicht allein.

Foto: thomas rottenberg

In der Seitenstettengasse stieg ein Zeitungsausträger vom Rad. Nahm eine erloschene Kerze, zündete sie an einer noch brennenden an – und wiederholte das bei etlichen anderen. Er machte ein Foto, die Gasse hinauf: "Für meine Leute daheim. Alle sollen das sehen." Er schob. Ich ging. Alles andere wäre unpassend gewesen.

Am Schwedenplatz stand ein älteres Paar. Betend. Bevor sie gingen, bekreuzigten sie sich: "Do not hate", sagte die Frau auf Englisch zu mir, "if you do, they win." Es war sechs Uhr in der Früh. Laufen? Jetzt? Wie sollte das gehen? Nicht nur, weil meine Kehle zu war. Wieder die Frau: "Go, run! We have to live."

Ich trabte los.

Foto: thomas rottenberg

Eigentlich hatte ich einen Sonnenaufgangslauf geplant gehabt. Darum war ich ja so früh raus. Nur: Es würde heute keinen Sonnenaufgang geben. Nur der Nebel, die graue Suppe, wurde allmählich heller.

Aber das passte: ein langer, langsamer, nachdenklicher, einsamer Lauf. Träge. Ohne Höhepunkte, ohne Spitzen, ohne Superlative – also gleichmäßig. Und meditativ: Woran ich bei langen Läufen dächte, hat mich vor kurzem davor jemand gefragt. Ich hatte keine Antwort gewusst: An alles – und doch auch an nichts. An das, was ich sehe. Gerade wenn es nichts zu sehen gibt.

Foto: thomas rottenberg

Der Weg führte den Donaukanal entlang auf die Hauptallee, dann auf die Tangentenbrücke: So früh war bei diesem Wetter kaum jemand unterwegs. Aber in einer oder eineinhalb Stunden würden PHA und die Insel zwischen den U-Bahn-Anschlüssen doch belebter werden. Ich wollte wenige Menschen sehen: Das rechte Flussufer ist da flussabwärts eine gute Option. Tatsächlich begegnete ich bis zum Kraftwerk gerade einmal vier Menschen: einer Läuferin. Zwei Fischern. Einem Obdachlosen, der unten, beim Kraftwerk, wohnt.

Foto: thomas rottenberg

Wo wenige Menschen sind, holt sich die Natur rasch den Raum zurück. Das geht schnell: Auf der Hauptallee waren mir heute dreimal Rehe über den Weg gelaufen. Hier, am Fluss, werkten die Biber – allem Anschein nach unmittelbar bis ich sie störte. Bissspuren und Späne waren frisch, eine nasse Spur führte quer über den Treppelweg. Es war so wie immer: Nur ein einziges Mal, schon vor längerer Zeit, habe ich einen Schatten im Wasser verschwinden gesehen.

Foto: thomas rottenberg

Unterhalb der Tangente stehen nicht viele Gebäude am Uferweg. Eigentlich nur der schmucklose, verlassen wirkende Betonblock: Menschen oder Licht habe ich dort noch nie gesehen. Auch kein Auto. Aber der Rasen ist gemäht. Im Sommer steht ein Griller draußen.

Das Rätsel ist aber die Aufschrift am Haus: "Jugoslawische Flusschiffahrt" steht da. Zwei S, zwei F. Nur: Jugoslawien gibt es nicht mehr. Auf der Seite der "Donaukommission" steht ein halbwegs plausibler Eintrag: Die serbische Schifferei ist am Strom als "jugoslawisch" registriert. Wieso, bleibt unergründlich: Die auf der Donaukommissionsseite angeführte Kontakttelefonnummer führt ins Nichts. Graues Rauschen.

Foto: thomas rottenberg

Nach den "Jugoslawen" kommt ein Restaurant samt Hotel. Derzeit (eh klar) geschlossen, sonst meist eher schwach frequentiert. Dann das "Museumsschiff und Schiffsmuseum", die Frederic Mistral.

Unlängst erzählte mir jemand, er habe hier das Museum besucht. Ich staunte: Ich habe noch nie Menschen an oder von Bord gehen gesehen. Auch die Donaufähre mit ihrer "etwas anderen Art, die Donau zu überqueren", habe ich noch nie fahren gesehen, aber heute brannte in der Mistral Licht.

Aber ich war im Kopf anderswo.

Foto: thomas rottenberg

Hundert Meter weiter liegt einer meiner Lieblingsplätze in Wien. Die Friedenspagode. Auch sonst bleibe ich hier meist stehen. Einfach so. Ich bin weder Buddhist noch sonstwie religiös, aber der Ort löst etwas aus. Wenn die Sonne den Buddha und die Spitze des Stupa zum Leuchten bringt, ebenso wie jetzt, im grauen, leeren Morgen.

Jemand hat eine Kerze hier aufgestellt. Ein christliches Motiv, aber ist das wichtig? Gestern, ich kam am Rad vorbei, war sie noch nicht da. Ein Räucherstäbchen glimmt. Das muss frisch sein. Die anderen hat die Feuchtigkeit längst ausgehen lassen, so wie die zweite Kerze hier. Ich hole meine Zündhölzer raus. Keine Ahnung, wieso – aber es fühlt sich richtig an.

Foto: thomas rottenberg

Woran ich beim Laufen denke? An nichts. An alles. An die Familien der Ermordeten. An den Nachruf der Schwester einer der Erschossenen. An Lara Hagens Text, in dem sie den Toten Gesichter, Persönlichkeit und Identität gab, ohne sie und ihre Familien aus dem Schutz des Privatseins zu reißen. So etwas zählt. Gerade jetzt.

Weil es wichtig ist, nicht zu vergessen, dass es um Menschen geht. Um ihre Leben. Gerade jetzt.

Foto: thomas rottenberg

Oben, auf der Kraftwerksmauer, gibt es ein Memento mori. Die Tafel für jene acht Männer, Matrosen eines Schubschiffes, die hier 1996 ums Leben kamen. Kein Anschlag, ein Schiffsunglück bei Hochwasser.

Macht das einen Unterschied? Für die Angehörigen im Moment des Verlusts wohl kaum. Für viele Andere schon: Es geht auch um den Umgang mit dem, was gut und was böse ist. Um Schicksal und Pech – oder Heimtücke und Niedertracht. Um das, was Menschen mitunter passiert – und das, was Menschen Menschen zufügen.

Foto: thomas rottenberg

Und darum, dass das Leben weitergeht. Nicht nur, weil es muss, sondern weil es schön ist. Wert, gelebt zu werden. Jeden Augenblick und aus vollem Herzen.

Auch und gerade in Momenten und Tagen wie diesen: Nein, man muss nicht so tun, als wäre alles gut. Als ginge es einem blendend. Als könnte man das einfach wegstecken, cool sein, drüberstehen, ein paar flapsige Bemerkungen rausschießen und sagen "Und jetzt langsam zurück zur Tagesordnung".

Es ist okay, sprachlos zu sein. Zu zweifeln.

Aber es gibt keinen Grund zu verzweifeln.

Foto: thomas rottenberg

Es war ein langer, ruhiger, einsamer und ereignisloser Lauf.

Und das war gut so.

Selten habe ich den Nebel, das Grau so gebraucht wie an diesem Sonntagmorgen. Und selten hat mich ein Satz so lange begleitet wie der der unbekannten älteren Dame am Schwedenplatz: "Do not hate. If you do they win."

Nein, das macht nichts ungeschehen. Nein, es beantwortet keine Frage.

Und nein, ich kann niemandem sagen, wie er oder sie damit umgehen, klarkommen soll:

Das hier ist nur eine Laufkolumne, kein Lebenshilfeblog.

Ich weiß nur eines: Laufen hilft. (Thomas Rottenberg, 11.11.2020)

Foto: thomas rottenberg