Der im Jahr 1930 eröffnete Karl-Marx-Hof gilt als Ikone des Roten Wien. Leistbares Wohnen hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

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Von der Bildungsmisere zur Wirtschaftskrise, von Migration und Wohnungsnot bis zur Arbeitslosigkeit: Es ist erstaunlich, mit welcher Zähigkeit sich die großen Themen der Wiener Politik am Leben erhalten. Bestimmten sie doch schon im Roten Wien der Zwischenkriegszeit die politischen Debatten.

Der wesentliche Unterschied zu heute: Damals konnte man selbst mit der Schreckenserfahrung des Ersten Weltkriegs und Massenarmut auf einen bemerkenswerten Optimismus und politischen Gestaltungswillen zurückgreifen, der für viele Menschen die Basis für ein besseres Leben gelegt hat.

Versuchsfeld und Aushängeschild

"Trotz Inflation, harter Sparmaßnahmen und wütender Angriffe der politischen Gegner machten die Sozialdemokraten Wien zum Versuchsfeld und Aushängeschild ihres politischen Programms", sagt Georg Spitaler vom Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung.

So hat die sozialdemokratische Wiener Stadtverwaltung in den Jahren zwischen 1919 und 1934 beispielsweise über 60.000 Wohnungen gebaut. "Allein dass der Wohnbau als öffentliche Aufgabe wahrgenommen und vom Markt abgekoppelt wurde, gibt einen Eindruck davon, mit welch klarem Kompass die damalige Politik gestaltet wurde."

Der Politologe und Historiker Georg Spitaler ist beim Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung tätig.
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Vermeidung von Katastrophen

Vom utopischen Drive ist heute wenig übrig. "Wir leben in einem dystopischen Jahrhundert", sagt Ingo Zechner vom Ludwig Boltzmann Institute for Digital History. "Die politischen und wissenschaftlichen Diskurse drehen sich vor allem um Katastrophenvermeidung, und das nicht erst seit Covid." In einer solchen geistig-emotionalen Verfassung könnte ein genauer Blick auf das Rote Wien durchaus neue Perspektiven bieten.

Aus dieser Überlegung heraus entstand eine fast tausendseitige historische Textedition, die in 36 Kapiteln rund 280 kommentierte Originaltexte von bekannten und vergessenen Stimmen dieser "Zweiten Wiener Moderne" umfasst. "Sie erinnern daran, was möglich war und weiterhin möglich bleibt", so Zechner, der gemeinsam mit Georg Spitaler und Rob McFarland den Band herausgegeben hat.

Differenzierter Blick

22 Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen und Ländern haben daran im Rahmen des Forschungsnetzwerks BTWH (Berkeley/ Tübingen/Wien/Harvard) zur Erforschung der deutschsprachigen Moderne jahrelang gearbeitet, finanziell unterstützt von der Wissenschaftsförderung der Stadt Wien.

Um einen differenzierten Blick auf die Epoche zu vermitteln, wurden neben wissenschaftlichen, literarischen und affirmativ sozialdemokratischen Texten auch Stimmen politischer Gegner in die Sammlung aufgenommen. Zu Wort kommen auch Künstler, Schriftsteller und andere Intellektuelle, die bislang nicht mit dem Roten Wien in Verbindung gebracht wurden.

Stefan Zweig über Frauenrechte

So findet man etwa von Stefan Zweig einen leidenschaftlichen Text zu Frauenrechten. Auch wichtigste Vertreter des Logischen Empirismus fehlen nicht. "Diese philosophische Richtung verfolgt ja eine klare politische Agenda: den Kampf gegen metaphysischen Unsinn", sagt Zechner.

Vom Logischen Empirismus ist es nur ein kleiner Schritt zur evidenzbasierten Forschung. "Die Protagonisten des Roten Wien waren davon überzeugt, dass politisches Handeln auf der Basis von sorgsam erhobenen wissenschaftlichen Fakten erfolgen sollte", so Zechner. "Deshalb förderte die Sozialdemokratie viele Einrichtungen, die Wissenschaft mit politischem Engagement verbanden."

Das reichte von Paul Lazarsfelds Wirtschaftspsychologischer Forschungsstelle bis zum Frauenreferat der Wiener Arbeiterkammer, dessen Leiterin Käthe Leichter eine große Industriearbeiterinnenstudie verfasste.

Ingo Zechner ist Leiter des Ludwig Boltzmann Institute for Digital History.
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Zeitlose Aktualität

Was die unterschiedlichen Intellektuellen verband, war nicht die bedingungslose Unterstützung der Sozialdemokratie, sondern die Ablehnung der reaktionären, von Antisemitismus getragenen Politik ihrer Gegner.

Viele der damaligen Themen sind bis heute nicht ausdiskutiert. Die Debatte um die Gesamtschule etwa ist über den Stand von 1927 kaum hinausgekommen, wie der Text "Warum fordern wir die Einheitsschule?" von Max Lederer zeigt.

In ihrer Gesamtheit machen die in die Sammlung aufgenommenen Texte deutlich, dass es sich beim Begriff des Roten Wien nicht nur um das Synonym für eine sozialdemokratische Stadtverwaltung handelt. "Es geht vielmehr um eine ganze Epoche, in der sich das gesamte intellektuelle Koordinatensystem verschoben hat", so Zechner. "Vom Individuum zur Gesellschaft, vom Körper des Einzelnen zum sozialen Körper."

Zweite Wiener Moderne

Bislang ist mit der Wiener Moderne vor allem das Fin de Siècle gemeint. "Wir haben für die Epoche des Roten Wien den Begriff der Zweiten Moderne eingeführt", sagt der Philosoph und Historiker.

Dieser umfasse viel mehr als Kunstwerke und wissenschaftliche Errungenschaften: "Gerade wegen seiner politischen und humanistischen Grundlagen kann das Rote Wien heute als neu zu entdeckendes Modell dienen, das für Strategien städtischer Krisenbewältigung oder zur Redemokratisierung herangezogen werden kann."

Die Textsammlung erscheint in einer deutsch- und einer englischsprachigen Ausgabe. "In den USA ist das Demokratiethema gerade hochaktuell", so Mitherausgeber Rob McFarland von der Brigham Young University in Utah.

Zwar werde der Sozialismus vom US-Establishment als Schreckgespenst dargestellt, doch vor allem bei jungen Menschen und in akademischen Kreisen sei die Idee eines demokratischen Sozialismus auch in den USA sehr verbreitet. "Die Themen und Texte des Roten Wien können die Diskussionen bereichern und machen zudem deutlich, was auf dem Spiel steht."

Rob McFarland ist an der Brigham Young University in Utah tätig.
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Wissenschaft und Gesellschaft

Sourcebooks, wie solche Quellenwerke im Englischen genannt werden, spielen zudem eine wichtige Rolle bei der Etablierung von Forschungsthemen. "Mittelfristig hoffen wir sowohl für den deutsch- als auch für den englischsprachigen Raum auf neue Forschungsarbeiten zu dieser Epoche", sagt Zechner.

"Und auf ein Einsickern der behandelten Themen in andere Teile der Gesellschaft." An Aktualität haben sie im Lauf eines Jahrhunderts kaum eingebüßt – etwa wenn es um Gesundheitsvorsorge, Frauenrechte, Armut, Obdachlosigkeit oder evidenzbasierte Politik geht.

Letztlich spiegelt sich in dieser vielschichtigen Quellensammlung der Entwurf einer egalitären Gesellschaft auf vielen Ebenen. "In den Diskursen ging es um Verteilungsgerechtigkeit, ein sozial durchlässiges Bildungssystem, Mieterschutz und Ähnliches – dennoch war das Rote Wien kein Alternativmodell zum Kapitalismus", so Zechner.

"Es setzte den Kapitalismus voraus, was von kommunistischer Seite massiv kritisiert wurde." Wer nun die rechtmäßigen Erben dieser so hoffnungs- und gestaltungsstarken Epoche sind, wird selbstverständlich heftig diskutiert. Das ist durchaus kein Schaden für den politischen Diskurs. (Doris Griesser, 17.11.2020)