Acqua alta im Oktober 2020 ... Bilder wie aus einer anderen Zeit.
Foto: EPA/Andrea Merola

Das Hochwasser vom 12. November 2019 ist in die Geschichtsbücher Venedigs eingegangen, und dies gleich aus zwei Gründen. Zum einen wurde vor einem Jahr mit 187 Zentimetern über Normalpegel das zweithöchste Acqua alta aller Zeiten gemessen – nur im Jahr 1966 waren die Fluten in der Lagune noch höher, auf 194 Zentimeter, gestiegen.

80 Prozent der einzigartigen Kultur- und Touristenstadt standen vor einem Jahr unter Wasser, die Krypta der San-Marco-Basilika war komplett geflutet. Der Präsident der Region Venetien, Luca Zaia, sprach von einer "apokalyptischen, totalen Verwüstung". Zwei Menschen starben, die Schäden bewegten sich in dreistelliger Millionenhöhe, die Regierung in Rom rief den Notstand aus.

Das letzte Hochwasser?

Historisch war das Hochwasser aber auch, weil es vielleicht das letzte war, das derartige Schäden anrichten konnte – denn inzwischen funktioniert das milliardenteure System aus mobilen Barrieren, das die Lagune schützen kann. Als am vergangenen 3. Oktober ein heftiger Scirocco-Wind aus dem Süden wieder einmal die Fluten des offenen Meeres in die Lagune treiben wollte, richteten sich erstmals bei einem Ernstfall die 78 Stahlkästen des Mose auf und wehrten das Hochwasser ab.

Außerhalb des mobilen Dammes stieg das Wasser auf 153 Zentimeter über Normalnull – doch die Stadt und der Markusplatz blieben, vom Regenwasser einmal abgesehen, trocken. "Normalerweise", sagte Claudio Vernier, der Präsident der Vereinigung der Bar- und Restaurantbesitzer an der weltberühmten Piazza, "wäre uns das Wasser wieder bis zu den Knien gestanden."

Knapp zwei Wochen später, am 15. und 16. Oktober, stellte Mose seine Verlässlichkeit bei erneuten Unwettern ein zweites und ein drittes Mal unter Beweis. Doch am 17. Oktober gab es für die Venezianer ein böses Erwachen: Der Markusplatz und Teile der Altstadt Venedigs standen wieder unter Wasser. Die Barrieren des Mose hatten sich trotz Hochwasserwarnung nicht vom Meeresgrund erhoben.

Der Grund war freilich nicht technisches Versagen, sondern eine Entscheidung von Cinzia Zincone, der Chefin des Konsortiums, das für den Betrieb des Mose zuständig ist. Mit 105 Zentimetern über Normalpegel war das Hochwasser an diesem Tag schlicht nicht dramatisch genug gewesen: Laut dem mit der Zentralregierung in Rom vereinbarten Protokoll erfolgt der "Einsatzbefehl" für Mose erst, wenn ein Acqua-alta-Level von 130 Zentimetern oder mehr droht.

Effizient, aber teuer: das Hochwasserschutzsystem in der Lagune von Venedig.
Foto: EPA/Andrea Merola

Der Grund für diese Beschränkung: Die Aktivierung des Hochwasserschutzes ist teuer. Jeder Einsatz des Mose kostet rund 300.000 Euro. Vor allem aber wird der Hafen von Venedig/Mestre lahmgelegt: Durch die Schließung der Lagune werden die Schiffe blockiert, vor den Eingängen kommt es zu chaotischen Staus von Frachtern und Schleppern.

Während die Hafenbetreiber an der 130-Zentimeter-Grenze festhalten wollen, drängen die Bewohner und Geschäftsinhaber der Altstadt Venedigs auf eine Senkung des Werts auf höchstens 110 Zentimeter. Bei dieser Höhe stehen nur zwölf Prozent von Venedigs Altstadt unter Wasser – bei einem Pegelstand, mit dem die Venezianer in Jahrhunderten von ständig wiederkehrenden Hochwassern gelernt haben zu leben.

Das letzte Wort in der Angelegenheit ist noch nicht gesprochen, zumal sich Mose derzeit offiziell noch im Probebetrieb befindet und erst nächstes Jahr in den Normalbetrieb übergehen wird. Zumindest heute kommt es in Venedig bei Hochwasserwarnungen jeweils zur paradoxen Situation, dass die Bewohner darauf hoffen, dass das Acqua alta möglichst hoch ausfallen wird, damit Mose auch tatsächlich zum Einsatz kommt.

"Nach dem jahrelangen Warten wollen die Einwohnerinnen und Einwohner Venedigs verständlicherweise in Zukunft bei Hochwassern trockene Füße behalten – auf der anderen Seite bringt man den Hafen um, wenn Mose ständig in Betrieb ist", bringt Bürgermeister Luigi Brugnaro das Dilemma auf den Punkt. Der Konflikt zwischen der Stadt und ihrem Hafen müsse jedenfalls irgendwie gelöst werden. (Dominik Straub, 11.11.2020)