Étienne-Louis Boullée träumte von einem Kugelbau mit 150 Meter Durchmesser.

Foto: Gemeinfrei, Generali Foundation Collection

Ein jeder Traum hat seine Zeit. Doch was aus jeweils speziellen Umständen heraus entstanden ist, entfaltet bisweilen nach Jahrzehnten eine plötzliche, manchmal regelrecht schmerzhafte Aktualität. Weil, zum Beispiel, Corona auf einmal alles verändert. Oder weil der frühere Traum jetzt vor dem Hintergrund der immer bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe eine neue Deutung erfährt.

Diese aktuell so drängenden Probleme scheint der österreichische Architekt Hans Hollein irgendwie vorausgeahnt zu haben, als er sich im Jahr 1969 mitsamt Zeichenbrett und Festnetztelefon auf dem Flugfeld Aspern in einen transparenten Plastikballon setzte und dieses reichlich absurde Setting als "mobiles Büro" bezeichnete.

Hätten wir nicht alle gern während des Lockdowns die Möglichkeit gehabt, den beengten Wohnverhältnissen einfach nach draußen zu entfliehen? Das Wetter und die Viren wären gleichermaßen an der pneumatischen Hülle abgeprallt. Ja, man kann sich vorstellen, dass der Schutzmechanismus sogar in umgekehrter Richtung wirken könnte.

Holleins Büroballon müsste technisch in der Lage sein, die akustische Umweltbelastung zu eliminieren, die unweigerlich dadurch entsteht, dass der Jungarchitekt laut quasselnd aus seiner Blase heraus mit wichtigen Auftraggebern in aller Welt telefoniert.

Möchte man wirklich die Homeoffice-Stunden des kommenden Corona-Winters in einer solchen Architekturvision verbringen wollen, selbst wenn die Heizungsfrage (zum Beispiel stilecht durch ein tragbares Atomkraftwerk) gelöst wäre?

Hans Holleins Vision eines mobilen Büros war ein Plastikballon.
Foto: Gemeinfrei, Generali Foundation Collection

Revolutionäre Träume

Architekturvisionen haben die Eigenart, dass sie ganz gerne in Horrorszenarien umkippen, sobald man etwas länger darüber nachdenkt. Das hat mit der unendlichen Trägheit menschlicher Wohngewohnheiten zu tun, wie sie der Architekt Adolf Loos ebenso prägnant wie für alle Visionäre total desillusionierend auf den Punkt gebracht hat: "Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ."

Aber wer träumt schon konservativ? Visionen sind schon sehr lange der Stoff, aus dem die Architektenträume sind. Schon die älteste, überhaupt in Europa erhaltene Architekturzeichnung zeigt einen visionären Entwurf, den Traum von einem perfekt strukturierten Kloster.

Der berühmte St. Galler Klosterplan entstand zwischen den Jahren 819 und 826. Doch die Gebäude stehen viel zu dicht, es ist eher eine Art Algorithmus exakt ineinandergreifender Funktionsbereiche als ein echter Bauplan. Man darf vermuten, dass das Blatt sich keine 1200 Jahre lang erhalten hätte, wenn der Inhalt nicht so visionär gewesen wäre, dass ihn die Mönche tapfer gegen alle Versuche verteidigt haben, das kostbare Pergament mit Heiligengeschichten zu überschreiben.

Der St. Gallener Klosterplan war traumhaft exakt strukturiert.
Foto: Gemeinfrei, Generali Foundation Collection

Seit der Renaissance herrscht an Architekturvisionen kein Mangel mehr. Sie erscheinen als Zeichnungen, bisweilen auch als Traktate wie die 25 Bände Filaretes, die der Beschreibung einer idealen Stadt gewidmet sind, deren Mittelpunkt ein zehngeschoßiges Bordell bildet.

Auch architektonisch-literarische Utopiewelten, wie sie in der berühmten Hypnerotomachia Poliphili, einem Roman aus dem Jahr 1499, detailliert geschildert werden, für den Schriftsteller Umberto Eco "das vielleicht schönste Buch der Welt", finden in ganz Europa Verbreitung.

Zugleich entstanden auch in der Realität Idealstädte, wie etwa das italienische Palmanova in der Nähe von Udine. Die kreisrunde Stadt mit ihren demokratisch-gleichmäßigen Parzellen und dem zentralen Platz in der Mitte entsprach der damaligen Idealvorstellung eines guten Lebens, das zugleich wegen der kompakten Bauweise effektiv verteidigt werden konnte.

Riesige Gebäude

Hingegen war die bauliche Umsetzung in die Wirklichkeit jenen Entwürfen nicht vergönnt, die am Vorabend der Französischen Revolution von 1789 der Architekt Étienne-Louis Boullée zu Papier brachte. Das Wunderkind Boullée wurde mit 19 zum Professor ernannt. Ab 1780 begann er von riesigen Gebäuden zu fantasieren.

Sein berühmtester Entwurf sollte das ganze Universum einschließen. Zu Ehren des Mathematikers und Physikers Isaac Newton entwarf Boullée einen kugelförmigen Bau um einen gewaltigen Hohlraum herum. Im Innern dieses riesigen Globus' mit etwa 150 Meter Durchmesser sollte, durch feine Lichtkanäle, bei den Besuchern der Eindruck des unendlichen Sternenhimmels erweckt werden. Die Entwürfe Boullées erinnern teils an die Überwältigungsarchitektur des Nationalsozialismus. Das Erhabene und der Schrecken angesichts erschlagender Dimensionen liegen nah beieinander.

Ersatzhandlung

Auch Karl Friedrich Schinkel träumte in gewaltigen Maßstäben. Der Berliner Architekt war mangels Aufträgen um 1800 gezwungen, sich gewaltige Dome an steile Küstenklippen zu träumen. Die Vision als Ersatzhandlung für das reale Bauen wird dann im 20. Jahrhundert regelrecht zum Klischee für den Beginn ambitionierter Architektenkarrieren.

Le Corbusier war 35 Jahre alt und hatte wenig anderes zu tun, als er 1922 die Neugründung einer Drei-Millionen-Einwohner-Stadt forderte. Kurz darauf schlug er vor, das Stadtzentrum von Paris auszulöschen und durch einen Pulk von Wohnhochhäusern zu ersetzen.

Der deutsche Architekt Herman Sörgel dachte zur selben Zeit noch größer. Ab 1928 fantasierte er von "Atlantropa". Das Mittelmeer sollte durch zwei Staudämme vom Atlantik und vom Schwarzen Meer abgetrennt werden. Dadurch sinkt der Wasserspiegel, Tunesien, Sizilien und das italienische Festland wachsen zusammen, die versandete Adria kann zur Hälfte als Ackerland genutzt werden, auch die griechischen Inseln verschmelzen miteinander.

Politisch schwankte Sörgel zwischen dem völkerverbindenden Aspekt seines Großprojekts und kolonialen Überlegungen, die sich bis in die Sahara erstreckten. Den Nazis war Sörgels pazifistischer Ansatz nicht geheuer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren große Pläne nur kurzfristig ausgesetzt. Schon bald nahmen der weltweite Wiederaufbau und die Entkolonialisierung derartig Fahrt auf, dass in den Boomjahren des Bauens ab 1960 Visionen bisweilen schnell von der Realität übertroffen wurden.

Archigram wollte mobile Städte durch die Wüste wandern lassen.
Foto: Sammlung des Deutschen Architekturmuseums

Großsiedlungen, Großuniversitäten, Großkliniken – dazu die atomare Aufrüstung, das Apollo-Programm, der Vietnamkrieg: Nie zuvor wurde so viel Fortschrittsglaube mit zumeist guten Absichten in Beton gegossen oder buchstäblich auf den Mond geschossen.

Neue Visionen

Diese 1960er-Jahre waren das visionsmäßig wahrscheinlich ertragreichste Jahrzehnt der Architekturgeschichte, weil sich abseits der gewaltigen Bauprogramme eine neue Generation zu Wort meldete, die entweder skeptisch auf den Boom reagierte oder der all diese Groß-Großprojekte noch viel zu harmlos erschienen.

In Japan träumten die Metabolisten von gewaltigen Kapselhäusern, die wie riesige Baumkronen über die Städte wuchern sollten, statt Früchten kleine Wohnzellen tragend. Oder von schwimmenden Städten, was den realen Hintergrund hatte, dass das Bauland in Metropolen wie Tokio erschreckend knapp wurde.

Die britische Gruppe Archigram schickte "Walking Cities" durch die Wüste. In Österreich entwickelten Coop Himmelb(l)au und Haus-Rucker-Co ihre technoid-organischen Gebilde, die bisweilen wie Sex-Apparaturen für den Austausch mit Außerirdischen wirkten.

Der Architekt Raimund Abraham erklärte, er wolle fortan lieber zeichnen, weil die Realität jeden Entwurf versaut, und ging in die USA, ebenso wie sein Freund Friedrich St. Florian. Einige der einstigen Avantgardisten haben eine scharfe Kehrtwende zum Realismus vollzogen, andere wie Wolf D. Prix bemühen sich auch im achten Lebensjahrzehnt noch um ihr Image als Enfant terrible.

Coop Himmelb(l)au imaginierten technoid-organische Gebilde.
Foto: Sammlung des Deutschen Architekturmuseums

Helden des Gewöhnlichen

Wie aber sieht es mit der heutigen Generation aus? Wovon träumt sie? Zwei, die sich entschieden haben, gegen die vermeintlichen Sachzwänge der Realität anzukämpfen, und damit zunehmend Erfolg haben, sind Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Ihr Verdienst besteht darin, sich zu verweigern. "Never demolish, always repair" lautet ihr Credo: Niemals abreißen, immer umbauen.

Sie haben mehrfach bewiesen, dass auch architektonisch belanglose Wohnhochhäuser der 1970er-Jahre durch das intelligente Anfügen einer neuen Schicht aus Wintergarten-Balkonen enorm aufgewertet werden können. Die Bewohner der meist schwierigen Viertel können bleiben, und die graue Energie, die einst in diese Bauten gesteckt wurde, bleibt erhalten.

Lacaton & Vassal zeichnen keine Visionen, sondern füllen Excel-Tabellen aus. Damit stellen sie die Grundsätze des Bauens viel radikaler infrage als mit fiebrigen Visionen einer fantastischen Architektur.

Unter den jungen Architekten sind sie die Helden des Gewöhnlichen, was aber unendlich schwer in die Köpfe einer auf Wachstum, Verschleiß und Sensationen gepolten Gesellschaft hineinzubekommen ist. (Oliver Elser, RONDO Exklusiv, 18.1.2021)