Die Literaturwissenschafterin Sabine Coelsch-Foisner arbeitet an dem Buch Visualisierung: Bildwissen – Wissensbilder (gemeinsam mit ihrem Kollegen Christopher Herzog, Universitätsverlag Winter, erscheint im Dezember). Der Band setzt, wie es heißt, "die Bilderflut wissenschaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggestiven Kraft von Bildern". DER STANDARD hat sie angesichts vieler Handyvideos, die unmittelbar nach dem Terroranschlag in Wien am 2. November im Umlauf waren, um ein Interview gebeten.

STANDARD: Ein weiß gekleideter Mann mit Waffe, Schüsse, zahllose Polizeiautos mit Blaulicht: Welche Assoziationen hatten Sie, als Sie die ersten Bilder vom Attentat in Wien sahen?

Coelsch-Foisner: Die Assoziationen waren sehr stark aufgrund meiner eigenen Geschichte: Ich war in Tel Aviv zum Zeitpunkt des New-Year-Shootings 2016 und wohnte in der Dizengoff Street, gleich neben den Geschäften, wo der Attentäter zu schießen begann. Ich war im Stau, als ich zurückkam, standen da viele Kamerateams. Erst in der Wohnung, dank einer Nachrichtensendung, war für mich klar, was passiert war. Ich war wie traumatisiert und habe mich zwei Tage gar nicht auf die Straße getraut. Was ich sagen will: Eine Assoziation hängt stark davon ab, was wir erlebt haben. Wenn man ähnliche Bilder wieder sieht, erinnert man sich. Es ist deshalb nicht weniger belastend. Für viele jüngere Menschen in Wien, für Teenager und Kinder, war es wohl besonders schockierend, weil sie es gar nicht einordnen können.

Umgestürzte Sessel und Tische in der Inneren Stadt – am Tag nach dem Attentat.
Foto: APA

STANDARD: Warum?

Coelsch-Foisner: Man dachte lange, dass so etwas in Wien nicht passieren könnte. 1985 gab es den letzten großen Terrorangriff, die Gruppe Abu Nidal griff den Flughafen Wien an. 1995 war das Jahr des Briefbomben-Attentäters Franz Fuchs. Natürlich können sich die Älteren daran erinnern, der Terrorakt am 2. November weckt unangenehme Erinnerungen. Jeder, der auch nur irgendeine Beziehung hat zu Orten und Städten, die vom Terror betroffen waren, New York 2001 London 2005, Paris 2015, um nur drei Beispiele zu nennen, wird betroffen sein, aber kann das Geschehene vermutlich für sich besser verarbeiten.

STANDARD: Welche Wirkung haben die Bilder, die man vom Attentat in Wien sehen konnte?

Coelsch-Foisner: Wir geben ja dem Bild, egal welchem, eine ganz große Beglaubigungsrolle, es ist ein wichtiger Vermittler, eine wichtige Dokumentationsform in unserer Zeit. Mit Handys aufgenommene Filme erwecken zusätzlich den Eindruck der Unmittelbarkeit. Wir waren beim Anschlag also irgendwie mittendrin und dabei. Trotzdem sind die massiv schonungslosen Bilder Fragmente, es sind Bruchstücke der ganzen Wahrheit – und das löst den Impuls aus: Wir wollen die Leerstellen füllen. Wir brauchen Geschichten, um Ereignisse zu verstehen, fügen Dinge zusammen, die vielleicht gar nicht zusammenpassen. So entstanden aus meiner Sicht auch Gerüchte über den Verlauf des Attentats, die sich zuletzt als falsch herausgestellt haben. In der Literatur bekommen wir auch Fragmente, sind gespannt, wie es weitergeht. Da wissen wir aber: Es kommt die ganze Geschichte. Aber unmittelbar nach einem solchen Anschlag, mit diesen Bildsequenzen im Kopf, sehen wir kein Ende. Man wusste die ganze Nacht und eigentlich auch am nächsten Tag nicht, wie es weitergeht. Und am Ende bleibt man ein Beobachter mit Erinnerungsfragmenten. Iris Murdoch hat einmal geschrieben: We don’t live a story. Wir erleben nicht die ganze Geschichte. Das heißt: Wir bauen sie in unserer Erinnerung zusammen, wir deuten sie. Da ist viel Fantasie beteiligt, auch frühere Traumata spielen eine Rolle.

Sabine Coelsch-Foisner spricht von "massiv schonungslosen Bildern".
Foto: privat

STANDARD: Sie sprechen von massiv schonungslosen Bildern. Unterscheiden sie sich denn von Filmaufnahmen von Katastrophen?

Coelsch-Foisner: Der Anschlag von Wien war ein Man-made Disaster, das Interpersonelle ist deutlich wirkungsvoller als ein schrecklicher Unfall oder eine Naturkatastrophe, weil es einen so ratlos macht hinsichtlich der Beweggründe. Man muss dann ja nicht alle Bilder anschauen, man muss nicht alle Augenzeugenberichte lesen, aber der Mensch ist so gestrickt, er will die ganze Geschichte hören. Das wird zu einem Sog, der belastend sein kann. Und diese Bilder gehen dann auch nicht mehr weg, sobald man sie gesehen hat. Man kann sie verdrängen, verarbeiten, aber nicht löschen.

STANDARD: Was machen traumatische Ereignisse mit der kulturellen Identität eines Landes?

Coelsch-Foisner: Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Der Anschlag ist nun Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Man hört ja häufig: Es wird nie wieder so sein wie vorher. Wir haben nun eine gemeinsame Erfahrung, die den Zusammenhalt stärkt, wie man etwa durch Initiativen auf Social-Media-Kanälen gemerkt hat. Es hat gezeigt: Auch Wien ist angreifbar, obwohl es viele nicht glauben konnten. Das ist etwas, was kollektiv traumatisieren kann. Darüber hinaus gibt es kulturelle Traumata.

Anteilnahme am Ort des Geschehens (Schwedenplatz, Wien): Mit Ritualen kann man sich den Schauplatz des Terrors wieder zurückreklamieren.
Foto: Cremer

STANDARD: Welche Rolle spielen diese?

Coelsch-Foisner: Man könnte die ganze Menschheitsgeschichte als Geschichte der Traumata beschreiben, die eine ganze Gesellschaft betroffen haben: die Pest, das Feuer in London. Wir alle wissen, was der Holocaust ausgelöst hat, die Anschläge vom 11. September 2001 in New York. Das kulturelle Trauma zeigt sich nicht nur dadurch, dass wir aus unserem Alltag herausgerissen wurden. Es zeigt sich auch durch die Art, wie man damit umgeht, wie man als Gesellschaft versucht, es zu verkraften: Trauerminute, Staatstrauer, Gottesdienst mit hohen Würdenträgern aller Religionen. Das sind wichtige Rituale aus unserer Kultur, wir belegen ein entsetzliches Ereignis mit etwas Vertrautem, das stärkt unsere Identität, und wir reklamieren den Schauplatz des Terrors durch Erinnerungspraktiken für uns zurück. Die Orte müssen aber auch wieder überschrieben werden. Es ist das Ende einer Geschichte, obwohl wir wissen, dass Gewalt nie ganz vermeidbar ist und Terrorakte wohl wieder auftreten werden. Man muss als kulturelle Gemeinschaft damit aber abschließen können. (Peter Illetschko, 11.11.2020)