Richter Andreas Böhm lässt gegenüber einem Polizisten, der einem Mann mit pfefferpraybenetztem Handschuh über das Gesicht gefahren ist, Milde walten.

Foto: Andy Urban

Wien – Für Martin Riedl, Verteidiger von Chefinspektor T., ist die Sachlage klar: "Das ist ein Fall, der geradezu nach einer Diversion schreit!", argumentiert er in seinem Eröffnungsplädoyer, an Richter Andreas Böhm gerichtet. Riedls Mandant, ein 42-jähriger Polizist, soll laut Anklage am Nachmittag des 23. März einen Obdachlosen am Körper verletzt haben, indem er ihm mit einem Handschuh, auf den er zunächst Pfefferspray gesprüht hat, über das Gesicht gefahren ist.

Zweiter Anklagepunkt: Nachdem die "bizarre Aktion", wie Richter Böhm es nennt, aufgeflogen ist, soll T. einen Aktenvermerk verfasst haben, in dem er nachträglich einen Pfeffersprayeinsatz bei völlig anderer Gelegenheit festhielt. Aus Sicht der Anklagebehörde war das erfunden und daher eine Beweismittelfälschung.

Schwerpunktkontrolle bei Tageszentrum

Der Angeklagte gibt sich zerknirscht und bekennt sich schuldig. Er habe damals mit einem Kollegen und einer Kollegin eine Schwerpunktkontrolle vor einem Tageszentrum für Obdachlose durchgeführt, erzählt er. Dabei sei das spätere Opfer aufgefallen, da der Mann ein Sackerl unter einem Zaun durchschob.

"Wir wollten das kontrollieren, ob dort Drogen drinnen sind. Es waren aber nur Alkoholika und Zigaretten", erinnert T. sich. Der Beamtshandelte, der nur schlecht Deutsch sprach, wollte sein Eigentum zurück und sei den Beamten immer wieder nahe gekommen. Mehrmals habe man ihn an der Schulter zurückgeschubst, bei einem festeren Stoß sei der Mann plötzlich nach hinten umgefallen. "Er hat sterbender Schwan gespielt", ist der Angeklagte überzeugt, auch sein Kollege verwendet später als Zeuge genau diese Formulierung.

"Komplett ausg'setzt"

T. holte Einweghandschuhe, um einen "Schmerzreiz" bei dem Liegenden zu setzen – ihn also beispielsweise beim Ohr zu zwicken, um zu sehen, ob er bewusstlos ist. Reaktion gab es keine. "Dann hat's bei mir komplett ausg'setzt", formuliert es der Angeklagte. Er nahm seinen Pfefferspray vom Einsatzgurt, sprühte etwas auf den Handschuh und fuhr dem Reglosen damit über das Gesicht.

"Warum?", will Richter Böhm wissen. Er sei damals unter Stress gestanden, holt der Angeklagte aus. "Wegen Corona hat mir meine Ex-Frau den Umgang mit unseren Kindern verboten, die Überstunden wurden weniger ...", führt T. als Erklärungen an. "Warum?", wiederholt Böhm. "Ich weiß es nicht. Es war, wie wenn ich neben mir gestanden wäre. Mein erster Gedanke danach war: 'Hey, bist du nicht ganz dicht?'" Nach T.s Darstellung sei das Opfer dann aufgesetzt und gefragt worden, ob es einen Arzt benötige, was verneint wurde. Die Rettung wurde dennoch verständigt und brachte den Beamtshandelten ins Spital.

Damit wäre aus Sicht des Angeklagten und seiner beiden uniformierten Kollegen die Sache erledigt gewesen. Wenn nicht eine Mitarbeiterin des Tageszentrums und ein Zivildiener den Vorfall beobachtet und gemeldet hätten. Nach einigen Tagen erschienen polizeiinterne Ermittler beim Angeklagten.

Dubioser Aktenvermerk zu Pfeffersprayunfall

Denen erzählte er zunächst, er habe seinen Handschuh nicht mit Pfefferspray, sondern Desinfektionsmittel benetzt. Die Spraydose wurde ihm dennoch abgenommen, also schrieb er zwei Tage später einen Aktenvermerk. Der Inhalt: Er habe Wochen vor dem Vorfall mit dem Obdachlosen beim Westbahnhof einen Verdächtigen verfolgt. Dabei habe er "aus eigensicherungstaktischen Gründen" bereits zu Beginn der Verfolgung das Pfefferspray gezückt. Blöderweise sei er an der Gehsteigkante des Gürtels gestolpert und habe "unabsichtlich einen Sprühstoß" abgegeben.

Vor Gericht bleibt T. bei dieser Darstellung. Das sei wirklich so passiert. "Das überzeugt mich in keiner Weise. Ich habe in 20 Jahren noch nie gehört, dass jemand bei einem Sturz unabsichtlich eine Spraydose auslöst", formuliert Richter Böhm seine Skepsis. Außerdem mag er nicht glauben, dass man bereits eine Waffe zieht, wenn man jemandem nachläuft.

Kollegen widersprechen Angeklagtem

Ein Glaube, den später T.s Kollegin und Kollege auf Nachfrage der Staatsanwältin als Zeugen untermauern. Beide verneinen, dass so etwas üblich sei – erst bei einer konkreten Gefährdung rüste man sich aus. Wegen des angeklagten Falles wurde gegen beide Beamte wegen Amtsmissbrauchs ermittelt, da sie die Sache nicht angezeigt haben. Die Verfahren wurden mit einer Diversion vorläufig eingestellt.

Die beiden Zeugen aus dem Tageszentrum schildern die Angelegenheit etwas anders. Die Beamten hätten den Mann mehrmals gestoßen, bis er schließlich umgefallen sei. Dass der Angeklagte den Reglosen zunächst am Kopf berührt habe und erst danach Pfefferspray auf den Handschuh sprühte, bestätigen beide. Die Mitarbeiterin behauptet allerdings, T. sei dem Opfer danach mehrmals über das Gesicht gefahren, während die beiden anderen Polizisten lachend daneben gestanden seien.

Alkoholisiertes Opfer ohne Erinnerung

Übereinstimmung herrscht bei fast allen Beteiligten, dass der stark alkoholisierte Mann zunächst nicht wirklich auf den Kontakt mit dem Reizmittel reagierte und sich erst danach, als er aufgesetzt wurde, über die Augen fuhr. Eine frühere Aussage des Opfers wird nur verlesen, da der Mann in Österreich nicht mehr auffindbar ist. Demnach wusste er nicht mehr, warum er plötzlich im Krankenwagen war. Als er im Spital aufwachte, hätten seine "Augen leicht gebrannt", an einen Pfefferspray konnte er sich nicht erinnern.

In seinem Schlusswort verweist der derzeit suspendierte Angeklagte, gegen den davor nie ein Disziplinarverfahren gelaufen ist, nochmals auf seine Integrität und nimmt sprachliche Anleihe bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen. "So bin i ned", sagt T., kann aber dennoch keine Erklärung liefern: "I bin jetzt sechs Monate daham gsessen. Ich habe keine Erklärung, außer dass es mir leidtut."

Diversion mit 1.500 Euro

Richter Böhm folgt der Anregung des Verteidigers und entscheidet sich für eine Diversion, wenn der Angeklagte binnen zwei Wochen 1.500 Euro zahlt. Da die Staatsanwältin keine Erklärung abgibt, ist die Entscheidung nicht rechtskräftig. Böhm glaubt dem Polizisten, dass es eine Kurzschlusshandlung gewesen sei. Den dubiosen Aktenvermerk erwähnt der Richter dagegen nicht mehr. (Michael Möseneder, 11.11.2020)