Vom Terror des Faschismus aus dem Vorstellungskreis einer behaglichen Kindheit verbannt: Walter Benjamin, ins Exil gedrängter Philosoph.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

Wenn Walter Benjamin seine Kindheit jemals mit der Vorstellung von Geborgenheit verband, so muss ihm diese nachträglich als unheimlich erschienen sein, als finster und – der Tendenz nach – als hochproblematisch. 30 makellose Prosaskizzen umfasst seine 1932 begonnene "Berliner Kindheit um 1900". Das Buch bildet ein Sammelsurium köstlichster Kindheitseindrücke. Und doch gehört dieser autobiographische Schlüsseltext zu Benjamins gewaltsam "zerschlagenen" Projekten: "Die Reihenfolge hat er nicht mehr festgelegt", hieß es jahrelang aus den Kreisen der Nachlassverwalter. Tatsächlich hat der Autor, selbst bereits an der Schwelle zum Exil stehend, mit einem Gefühl wachsender Verzweiflung an der Zusammenstellung der Druckvorlage herumgedoktert.

Zeiten der Vertreibung sind solche des Wirklichkeitsverlusts. Sollte der Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) sich jemals mit Plänen zu einer regelrechten Autobiografie getragen haben, so verstand er es doch zweifellos, diese Absicht wirksam zu unterbinden. Radikaler noch: Indem Benjamin seine frühkindlichen Eindrücke mit der Geschichte der Moderne auf das Allerengste verknüpfte, verzichtete er zugleich auf die Darstellung eines Kontinuums.

Gerade die Unmittelbarkeit der Erinnerungsleistungen soll die Gewähr für deren Gültigkeit erbringen. Und so zeitigt das Weben am Teppich der Erinnerung – diese unbedankte "Penelope-Arbeit", das unsystematische Sammeln – eine Flut kleinerer Stofffragmente. "Funde sind Kindern, was Erwachsenen Siege", heißt es dazu unendlich lapidar in der Skizze "Pfaueninsel".

Mit Bann belegt

Man darf sich das Kind als eines vorstellen, das mit einem Bann belegt ist. Die Lokalitäten und Gegenstände färben sich für es allesamt mit einer Bedeutung, die ihre angestammte Funktion mit Leichtigkeit übertrifft. Vor seinem geistigen Auge verwandelt sich die Metropole in ein Labyrinth; in einer Stadt sich zu verirren, "wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung." Unsinnliche Ähnlichkeiten treten an die Stelle von rein nützlichen Erwägungen. Jenseits der Düfte und Geräusche, von verschossenen Farben und knisternden Stoffen, wird eine Übermacht spürbar, mit der die Dinge unausgesetzt an die Vorstellungskraft des Kindes appellieren.

Doch ist es wirklich das Kind, das von den "Nachtgeräuschen" des Telefonapparats aus seiner Geborgenheit gerissen wird? An dessen ohrenbetäubendem Klingeln nicht nur die Mittagsruhe der Eltern zuschanden ging, sondern das gleich das ganze "Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete"? Die Magie der Dinge, die berauschende Luft, die durch Berliner Loggien um 1900 geweht haben mag, übersteigt die Fähigkeiten dessen, der sie ebenso getreulich wie eben nur nachträglich zu benennen begehrt.

Das Kind verschmilzt schier mit den Objekten, in denen sich der Wohlstand des Wilhelminismus schlampig niederschlug. Benjamins Unternehmung muss der ungleich größeren von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vielleicht nicht ihrem Umfange nach, aber in ihrer paradoxen Absicht an die Seite gestellt werden. Überwältigt von der sinnlichen Wirkung, mit der die konkrete Erinnerung sich ihm viele Jahre später förmlich aufdrängt, erkennt ihr Inhaber doch auch das Trügerische, mit der sie sich jeder Form der Verfügbarkeit entzieht.

Kindlicher Sammler

Ihm ergeht es wie dem kindlichen Schmetterlingssammler, der wünscht, sich gänzlich in Luft und Licht aufzulösen, nur um sich desto unbemerkter der Beute nähern zu können: "Je mehr ich selbst in allen Fibern mich dem Tier anschmiegte, je falterhafter ich im Innern wurde, desto mehr nahm dieser Schmetterling in Tun und Lassen die Farbe menschlicher Entschließung an und endlich war es, als ob sein Fang der Preis sei, um den einzig ich meines Menschendaseins wieder habhaft werden könne."

Nichts an solcher gaukelnden Entschließung versöhnt uns mit gewaltsamen Wechselfällen: mit dem Terror des Faschismus, der den Menschen aus dem Vorstellungskreis einer von Kindheitstagen an nachwirkenden Behaglichkeit vertrieb. Nichts an der Traumprosa der "Berliner Kindheit" sei idyllisch oder kontemplativ, wusste denn auch Benjamins Freund Theodor W. Adorno. Hitlers Reich kündigt seine Ankunft an. Die Luft um die Schauplätze dieser Selbstvergewisserung sei, so Adorno, "tödlich". (Ronald Pohl, 12.11.2020)