"Was soll man zu diesem Leben sagen? Man kann ja nicht einmal damit anfangen. Dieses Leben ist zu groß für mich", sagt die Schriftstellerin Elfriede Jelinek in einem eigens aufgenommen Geburtstagsvideo. Die Person, von der die Rede ist, heißt Lotte Brainin und ist eine der wenigen noch lebenden jüdischen Widerstandskämpferinnen, die sowohl das KZ Auschwitz wie auch das KZ Ravensbrück überlebt haben. Am 12. November feiert Brainin ihren hundertsten Geburtstag.

Wenn angesichts dieser Biografie selbst einer Literaturnobelpreisträgerin die Worte schwerfallen, was kann unsereins über das Leben dieser so bewundernswürdig tapferen Frau schreiben? Das Gute ist, dass es aus Anlass dieses Geburtstags seit kurzem ein "virtuelles Denkmal" für Lotte Brainin gibt: eine von der Multimediakünstlerin Marika Schmiedt gestaltete digitale Ausstellung, die Brainins heldinnenhaften Lebensweg mit vielen Originaldokumenten zugänglich macht.

Startseite der digitalen Ausstellung über Lotte Brainin.
Foto: www.brainin.at

Festakt mit zwei Bundespräsidenten

Diese sehr besuchenswerte Seite ist freilich nicht der einzige Beitrag zu Ehren der Jubilarin. Heute um 18 Uhr findet auch ein – Corona-bedingt nur gestreamter – Festakt statt, bei dem unter anderem Bundespräsident Alexander Van der Bellen und sein Vorgänger Heinz Fischer Reden halten werden.

Zu den zahlreichen weiteren Gratulantinnen und Gratulanten werden Nationalratspräsidentin Doris Bures, Bürgermeister Michael Ludwig, der belgische Botschafter Ghislain D’hoop, der Schriftsteller Doron Rabinovici oder eben Elfriede Jelinek zählen, eine "angeheiratete Verwandte" (O-Ton Jelinek) der Jubilarin.

Lotte Brainins Familie stammte aus Galizien. Ihre Eltern, Jetti und Mauricy Sontag, waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs aus dem östlichen Kronland der Habsburgermonarchie nach Wien geflüchtet. Lotte wuchs mit vier Geschwistern in ökonomisch prekären Verhältnissen und einem sozialdemokratischen Umfeld auf. Zu ihren Freunden bei den Roten Falken zählten unter anderem der spätere Justizminister Christian Broda und dessen Bruder Engelbert, der Wissenschafter wurde.

Schon früh politisch engagiert: Lotte Brainin (geborene Sontag) mit zwölf Jahren.
Foto: Privatarchiv Brainin

Nach den Februarkämpfen 1934 schloss sich die erst 14-Jährige dem Kommunistischen Jugendverband an. Mit 15 wurde sie das erste Mal aus politischen Gründen verhaftet und musste drei Wochen in Haft verbringen.

Flucht nach Belgien

Nach dem "Anschluss" im März 1938 war das Leben der jungen Jüdin und kommunistischen Aktivistin in doppelter Weise in Gefahr. Also entschloss sie sich zur Flucht nach Belgien. Das Zugticket bis Köln konnte sie dank der Hilfe zweier Freunde aus dem Kommunistischen Jugendverband bezahlen. Diese Freunde – Friedrich Muzyka und Alfred Rabofsky – wurden sechs Jahre später von den Nazis wegen "wehrkraftzersetzender" Aktivitäten 1944 hingerichtet.

In Brüssel traf sie ihre Brüder Elias und Heinrich wieder, auch ihre Mutter stieß zu den Kindern. Doch mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien im Mai 1940 wurde die Familie neuerlich auseinandergerissen: Nur den beiden Brüdern gelang die Flucht nach Südfrankreich, während Mutter und Tochter nach ihrer Flucht in die nordfranzösische Stadt Dünkirchen/Dunkerque wieder zurück nach Brüssel mussten.

Lotte Brainin betätigte sich auch im belgischen Exil unter lebensgefährlichen Bedingungen im Widerstand.
Foto: Privatarchiv Brainin

"Mädelarbeit" unter Einsatz des Lebens

Auch in Belgien engagierte sich Lotte Barinin, damals noch Sontag, im jüdischen Widerstand, unter anderem mit dem späteren Schriftsteller Jean Améry. Im Rahmen der "Travail Allemand" beteiligte sie sich an der lebensgefährlichen "Mädelarbeit": Junge Frauen versuchten mit Angehörigen der Deutschen Wehrmacht ins Gespräch zu kommen und sie im antinationalsozialistischen Sinn zu beeinflussen.

Aufgrund dieser Aktivitäten wurde sie 1943 von einem Soldaten verraten und festgenommen. Nach mehreren Monaten Haft und brutalen Verhören und Folterungen deportierten sie die Nazis im Jänner 1944 aus dem Sammellager Mechelen ins Vernichtungslager Auschwitz.

Auch dort leistete sie Widerstand – im Rahmen der internationalen Widerstandsorganisation bzw. Kampfgruppe Auschwitz. Den Todesmarsch von Auschwitz nach Gleiwitz/Gliwice im Jänner 1945 überlebte sie ebenso wie mehrere Monate im Frauen-KZ Ravensbrück. Im Zuge der "Evakuierung" von Ravensbrück gelang ihr Ende April 1945 die Flucht, die sie über Brüssel im Juli 1945 nach Wien zurückkehren ließ.

Der Empfang in ihrem Heimatbezirk Alsergrund war ernüchternd: Die Mutter ihrer liebsten Schulfreundin kam ihr mit folgenden Worten auf der Straße entgegen: "Hearst, du kommst zurück? Du lebst? Wieso ist denn das?"

Antifaschistisches Engagement nach 1945

Während alle fünf Geschwister die NS-Zeit überlebten, wurden ihre Eltern Opfer der Shoah: Die Mutter wurde 1944 in Auschwitz ermordet, dem Vater 1941 in Buchenwald das Leben genommen.

Das Erlebte ließ die Tochter nicht los: Im Jänner 1947 wurde sie als Zeugin im Ravensbrück-Prozess vorgeladen. Was sie erzählte, trug dazu bei, dass eine der Täterinnen zum Tode verurteilt wurde. Ein Jahr später heiratete Lotte Sontag Hugo Brainin, der die NS-Zeit im englischen Exil überlebt hatte und mit dem gemeinsam sie sich viele Jahrzehnte lang als Zeitzeugin engagierte und in Schulen und anderen Institutionen vom Erlebten berichtete. Lotte Brainin gründete zudem die österreichische Lagergemeinschaft Auschwitz und Ravensbrück mit und war im Bundesverband österreichischer AntifaschistInnen, WiderstandskämpferInnen und Opfer des Faschismus tätig.

Engagierte antifaschistische Zeitzeugen: Hugo und Lotte Brainin.
Foto: Privatarchiv Brainin

Das große Engagement der Lotte Brainin lebt in ihren beiden Töchtern und deren Familien fort: Elisabeth Brainin ist Psychiaterin und Psychotherapeutin, ihre Schwester Marianne Psychologin und Psychotherapeutin, beide arbeiten mit psychisch kranken und traumatisierten Menschen. Heute werden die beiden gemeinsam mit weiteren Verwandten und vielen prominenten Gratulantinnen und Gratulanten ihre Mutter, eine österreichische Heldin, hochleben lassen. (Klaus Taschwer, 12.11.2020)