Es ist Nachmittag, der Markt klappert ruhig vor sich hin. Noch ruhiger als sonst, in Zeiten des Lockdowns dürfen nämlich nur die Verkaufsstandln offen halten. Alles, was eine Ausschank hat, hat Auszeit. Auf einmal quietscht und kreischt es gotterbärmlich. Ein Geräusch, bei dem Kreide auf der Tafel vor Ehrfurcht erblassen würde, wenn sie das noch könnte.

"Des san die Gummiradln von denaren Wagerln", kommt der fatalistisch despektierliche Kommentar von gegenüber. "Die hot der seit über vierzg Joahr no net erneuern lassn." Der, das ist der Karl Kutschera, Seniorchef eines der letzten traditionellen Obst- und Gemüsestände auf dem Naschmarkt. Gerade ist er dabei, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Standl-Möblage, darunter besagte Wagerln, wieder in den Innenraum zu verfrachten. Für heute wird das Gschäft zugemacht.

Karl Kutschera mit Wagerl.
Foto: Regine Hendrich

Auch wenn Teile der Einrichtung vielleicht quietschen mögen – die Standlroutine flutscht wie frisch geölt, und das seit Jahrzehnten. "Aufgestanden wird jeden Tag um halb vier", erzählt Kutschera. Dann geht’s vom heimatlichen Großenzersdorf mit dem Lkw zum Großmarkt in Inzersdorf, wo die Frischware für den Tag angekauft wird. Hauptsächlich für die langjährigen Kunden aus der Gastronomie, die beliefert werden – vom Marktverkauf allein kann kaum noch ein Lebensmittelhändler leben –, aber natürlich für das Standl. "Möglichst nach Saison, möglichst frisch, und natürlich schauen wir, dass immer was Besonderes dabei ist."

Für immer zu

Um sechs, halb sieben wird dann das Herzstück aufgesperrt. Erst die metallenen Rollläden mit den vielen bunten Graffitis drauf ("Na, mi stören die net!"), die nun bis zum Nachmittag unsichtbar bleiben. Dann werden die Türen aufgesperrt und die Einrichtung herausgestellt. Zuerst die hölzernen Füße ("Die hat’s schon gegeben, als wir den Stand 1974 übernommen haben!"), die metallenen Gestelle mit den Radeln, die seit damals nicht neu gummiert worden sind, auch diesmal quietschen sie und kreischen.

Aber um die Zeit ist außer den Kutscheras noch kaum jemand da, dem es bei dem Geräusch die Gänsehaut aufziehen könnte. Die Zeiten, an denen der Markt schon bei Morgengrauen belebt war, von Frühaufstehern und übriggebliebenen Nachtschwärmern, sind endgültig vorbei. Sogar die Gräfin am Naschmarkt, letzte Bastion des "Mir is wurscht, i wü no a Bier", hat für immer zugesperrt.

1974 hat Familie Kutschera den Obst- und Gemüsestand übernommen, er ist einer der meistfotografierten am Naschmarkt.
Foto: Regine Hendrich

Tauben, Spatzen und Herr K.

Vor neun ist kaum etwas los auf dem Markt. Nur die Tauben und die Spatzen sehen zu, als die Kutscheras – Herr Karl, die zwei Söhne, die Schwiegertochter und ein Angestellter – die von Zeit und Gebrauch abgeschliffenen Holzplatten auf die rund um das Standl angeordneten Holzfüße und Metallgestelle legen, jedes hat seinen Platz, auf den Zentimeter genau. Inzwischen ist schon die Ware aus dem Lkw ausgeladen, auch die kommt auf Wagerln daher. Präsentiert wird sie in Weidenkörberln. "Das hat meine Frau noch so eingeführt", erzählt Herr Karl, der seit Jahren Witwer ist.

Jedes der Körberln hat seine Geschichte: "Das da hab ich vom Flohmarkt, das da drüben auch – jedes Mal, wenn ich so eins seh, dann nehm ich’s mit. Das da vorn hat mein Sohn von irgendeinem Großhandel, und das da hinten ... das ist überhaupt schon ganz alt."

Die Körberl, vor allem die tiefen, großen, sind natürlich nicht bis unten voll mit den Äpfeln, Birnen oder Zwetschgen. "Da würden die unten ja hin, das geht net." Papier und Kartonagen dienen als Füllstoff, damit alles locker bleibt.

Jedes der Körberln hat seine Geschichte.
Foto: Regine Hendrich

Farbenlehre

Die Anordnung der einzelnen Waren ist auch kein Zufall: "Ma kann ja net Marillen neben Orangen legen. Orange neben Orange, das kann nix." Die Farbgebung ist durchdacht, Grün neben Rot, Orangegelb neben Lila, und sogar bei den gefühlt 15 verschiedenen Tomatensorten, die es hier gibt, lockt der Farbkontrast. Nicht von ungefähr ist Kutscheras Stand einer der meistfotografierten hier am Markt. "Im Moment halt leider eher net so", sagt Herr Kutschera.

Dafür kommt als einer der ersten Kunden der alte Herr Urbanek vorbei, ein Markt-Grandseigneur. Er holt sich frisches Gemüse und lässt ein paar Witze da, wie den vom nichtrauchenden, nichttrinkenden Sandler, den der ältere Ehemann seiner Gattin vorstellt mit den Worten: "Schau, was aus einem wird, der nix raucht und der nix sauft!"

Im Standl selbst ist es um die Zeit geschäftiger als draußen: Wenn die Einrichtung rausgeräumt ist, ist drinnen (das sind insgesamt ca. 80 Quadratmeter, ein großer Teil davon ist der Kühlraum) das Büro frei, mit Schreibtisch, Computer, Telefon und Faxgerät, in dem die Bestellungen für die Gastronomiekunden bearbeitet werden. Apropos Fax – wie schaut’s eigentlich mit Modernisierungen aus? "Umgebaut wird bei uns nichts", sagt Kutschera. "Das Standl ist schön so, wie es ist, wir wollen daran nichts ändern. Instandhaltungsarbeiten gibt’s halt immer wieder. Und neu gestrichen wird alle paar Jahre." Und das ausschließlich in einer Farbe: "Moosgrün RAL 6005". Das klassische Naschmarktgrün ist vom Marktamt verpflichtend vorgeschrieben.

Karl Kutschera (rechts) mit Schwiegertochter Andrea und Sohn Johannes: "Gut läuft's nicht, aber es geht sich immer noch halbwegs aus."
Foto: Regine Hendrich

Im Lauf des Vormittags wird’s dann doch geschäftig, trotz Lockdowns. "Das Gschäft ist nimmer so gut wie früher. Aber es geht sich immer noch gut aus." Und es ist viel zu tun. Aufs Klo gegangen wird ums Eck in der historischen öffentlichen Toilette, beim Umgekehrten ist das schon schwieriger: "Essen? Nix mehr, seit der alte Drechsler nicht mehr da ist." Das legendäre Café Drechsler an der Wienzeile war der Nahversorger für die Standler, aber vom alten Grindglanz ist nicht viel geblieben. Kutschera widmet seiner Ernährung längst nicht so viel Sorgfalt wie der seiner Kundschaft: "Na ja, man holt sich halt was."

Obst rein, Graffitis raus

Um halb vier ist das Hauptgeschäft vorbei. Die rot-weiße Markise wird eingezogen wie ein Signal zum Aufbruch, das Standl wird wieder eingeräumt. Zuerst wird die Ware verladen, auf die Wagerln. Dann kommen die Holzplatten rein, jede an ihren Platz, dann die Holzfüße, schließlich werden die Metallwagerln reingefahren, eins nach dem anderen, und passgenau übereinander- und aneinandergestellt. Ein bisserl wie bei einem Kind, das die Spielsachen wegräumen muss, Stück für Stück. Die nicht verkaufte Ware kommt in den Kühlraum oder an die Wiener Tafel, je nach Zustand. "Wegghaut wird bei uns nix", meint Kutschera, zieht den Rollladen runter und befreit die Graffitis wieder aus ihrem Versteck.(Gini Brenner, 11.11.2020)