Im Gastkommentar findet Joëlle Stolz, frühere "Le Monde"-Korrespondentin in Wien, dass Frankreich von der offenen Laizität in Österreich und Deutschland lernen könnte.

Kanzler Sebastian Kurz sprach am Dienstag in Paris mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und, per Videokonferenz zugeschaltet, Kanzlerin Angela Merkel über Maßnahmen zur Bekämpfung des islamistischen Terrors.
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Das islamistische Attentat in Wien am 2. November hat eine Illusion zerstört: Es war naiv und gefährlich zu glauben, Österreich bliebe diese Barbarei erspart. Aber die Empathie vieler Franzosen schöpft auch aus anderen Gefühlen: Was den Österreichern geschieht, ist ein Beweis, dass wir recht haben. Unsere Laizität ist die beste. Wieder eine gefährliche Illusion. Das radikale Modell der Laizität Frankreichs schwächt unsere moderne Demokratie, statt sie zu stärken, und bereitet uns nur sehr schlecht auf die Herausforderungen der Zukunft vor.

Es ist klar: Feigheit ist keine Option. Der Jihadismus und die islamistische Ideologie dahinter müssen bekämpft werden. Wir müssen die individuelle Autonomie, die Rechtsstaatlichkeit, die Gleichheit, die Freiheit zu denken und sich auszudrücken verteidigen. Um die Frage der Laizität, also des Verhältnisses zwischen Staat und Religion in einer modernen Gesellschaft, kommen wir trotzdem nicht herum.

Staatliche "Gleichgültigkeit"

Die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty, der seinen Schülern Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte, hat in Frankreich zu einer heißen Diskussion geführt. Diejenigen, die mehr Härte fordern, streiten mit denen, die finden, die derzeitigen Gesetze reichten. Die einen werden als "Islamo-Linke" verpönt, die anderen als "McCarthy-istische Republikaner".

Der juridische Rahmen ist schon lange fixiert: Ein Gesetz aus dem Jahr 1905 verschreibt dem Staat eine strikte Neutralität gegenüber jeder Religion. Blasphemie in ihrer säkularisierten Form wurde schon 1881 als Strafbestand abgeschafft. Aber die "Gleichgültigkeit" des Staates gegenüber jeder Religion, damals war die mächtige katholische Kirche gemeint, macht es schwierig, in die Ausbildung der Imame einzugreifen. In Deutschland und Österreich, die ein offenes Modell der Laizität haben, fällt dies leichter. Frankreich ist weitgehend entchristianisiert. Laut jüngsten Statistiken erklären sich 56 Prozent der Franzosen als "nicht gläubig", Agnostiker oder Atheisten. Wie der Philosoph Jacob Rogozinski in Le Monde schreibt: "Dass es keinen Gott gibt, so ist unser Credo (...). Deswegen können wir nicht verstehen, dass für Menschen, die an ihn glauben, eine Beleidigung gegen ihn schlimmer ist als eine gegen sie persönlich."

Radikale Auslegung

Nach dem Mord an Paty stand Frankreich ziemlich allein da. Präsident Emmanuel Macron musste im konservativen TV-Kanal Al-Jazeera das Recht auf die Karikaturen verteidigen, dann in der liberalen Financial Times. In der muslimischen Welt mutierte Frankreichs guter Ruf (aus einer Zeit, als Präsident Jacques Chirac abgelehnt hat, sich am militärischen Angriff gegen den Irak zu beteiligen) zur offenen Feindseligkeit gegen das Land. Skepsis herrschte sogar in westlichen Ländern wie Kanada, wo Premier Justin Trudeau, einst in den französischen Medien gefeiert, sich von den Karikaturen distanzierte. Für viele Franzosen war das ein Schock.

Als Journalistin, die den Aufschwung des Islamismus in Algerien und Nigeria erlebt hat, konnte ich feststellen, dass jenseits der französischen Grenzen unser radikales Modell der Laizität kaum verstanden wird. Sie ist bei uns zu einem Kultobjekt geworden, wie "die Republik" – als wären die Niederlande, Schweden oder Spanien keine Demokratien! Kreuze in öffentlichen Gebäuden, wie in Österreich, nationale Flaggen in Kirchen, wie in den USA und anderen Ländern, sind bei uns nicht zu sehen. Es ist undenkbar, dass eine Regierungschefin, wie in Neuseeland Jacinda Ardern, sich mit Kopftuch zeigt. Ardern wollte nach dem Angriff auf zwei Moscheen in Christchurch, der 2019 von einem Rechtsextremisten begangen wurde (51 Tote und 49 Verletzte), ihre Solidarität beweisen.

Teuer bezahlt

Frankreich hat für sein Modell teuer bezahlt. Zwischen 1979 und 2019 wurde es laut einer Studie auf der Plattform Data.fondapol das Ziel von 54,3 Prozent der islamistischen Angriffe in der gesamten Europäischen Union. Viel mehr als in Deutschland, das freilich auf militärischer Ebene im Ausland weniger aktiv ist. Anders als Deutschland hat meine Heimat das islamische Kopftuch in allen öffentlichen Schulen verboten, sie scheint vom "Kopftuch" als Symbol der weiblichen Unterwerfung wie besessen. Es blendet wichtigere Aspekte aus, wie eine tatsächliche Gleichheit der Geschlechter, effektive Rechte für Homosexuelle oder Religions- und Meinungsfreiheit.

Das war nicht immer so. Noch 1994 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zugunsten Österreichs ein Urteil gefällt: Vom Innsbrucker Bischof ersucht, hatte das Land Tirol den antiklerikalen Film Werner Schroeters, Liebeskonzil, verboten. Eine derartige Entscheidung war "auch in einem öffentlichen laizistischen Raum", laut EGMR, im Interesse des sozialen Friedens gerechtfertigt. Hingegen erwarten wir heute, vor allem in Frankreich, von Moslems wie von Christen, Juden oder Buddhisten, dass sie die Beleidigung ihres Glaubens dulden: Freiheit ist uns wichtiger als sozialer Frieden.

Unnötige Provokation

Aber wie sehr? Das Recht von Charlie Hebdo, Karikaturen des Propheten zu veröffentlichen, soll verteidigt werden. Dass diese Karikaturen auf Fassaden von öffentlichen Gebäuden in Toulouse und Montpellier projiziert wurden, war eine unnötige Provokation. Ein islamistischer Fanatiker hat dann drei Gläubige in der Basilika von Nizza grausam ermordet. Jetzt erst recht, weiter so! – so reagieren Frankreichs verbissene Laizisten. Eine tödliche Spirale.

Denn die Zeit, in der der Westen die Welt allein regierte, ist vorbei. Für Länder, die sich als Großmacht profilieren wollen, allen voran China, stehen Ordnung und Wohlstand viel höher als Freiheit. Manche evangelikale Christen in Afrika, in Nord- und Lateinamerika (60 Millionen allein in Brasilien), in Asien, denken nicht anders als viele Moslems, wenn sie unter anderem Abtreibung oder Homosexualität strikt ablehnen.

Wir sollten einen Konsens in der demokratischen Welt suchen und Allianzen schmieden, statt unsere Feinde zu vermehren. Eine offene, flexible Laizität ist dafür ein effizienteres Mittel. (Joëlle Stolz, 12.11.2020)