Im Gastkommentar warnen Richard Soyer, Universitätsprofessor für Strafrecht und Rechtsanwalt, Nihad Amara, Projektmitarbeiter an der JKU Linz, und Rechtsanwalt Philip Marsch davor, das Strafrecht westlicher Prägung in ein Gefahrenabwehr-, Präventiv- beziehungsweise Feindstrafrecht umzubauen.

Am Dienstag stimmte sich Kanzler Sebastian Kurz in Paris mit Präsident Emmanuel Macron ab, am Mittwoch präsentierte er in Wien mit dem grünen Vizekanzler Werner Kogler ein umfassendes Antiterrorpaket.
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Die blitzschnellen Schuldzuweisungen von Bundeskanzler und Innenminister nach dem Attentat waren starker Tobak: Auf dem Tablett wurde sofort in populistischer Manier die Justiz als Schuldige serviert. Den größten Kollateralschaden erlitt dabei das Instrument der bedingten Entlassung, eine für die Sicherheit der Gesellschaft wichtige Errungenschaft, welche die Kontrolle eines – eben nur bedingt – Entlassenen ermöglicht. Nach und nach sickern Details eines offensichtlichen Versagens von Polizeiorganen durch, es werden Ablenkungsmanöver in Gestalt von Rufen nach dem schärfsten Schwert des Staates, dem Strafrecht, laut.

Heinz Mayer plädierte an dieser Stelle dafür, Vorbereitungshandlungen mit dem Strafrecht zu verfolgen (siehe "Rechte Einsperrfantasien"). Solche Debatten über die Grenzverläufe des Strafens poppen nach Terroranschlägen reflexartig auf. Für den konkreten Fall des Wiener Attentäters gibt es längst eine strafrechtliche Handhabe: Mit § 278b Abs 2 StGB stellt der Gesetzgeber die mitgliedschaftliche Beteiligung an terroristischen Vereinigungen und damit auch Handlungen weit im Vorfeld eines Attentats unter eine hohe Strafdrohung. Beispiele aus der Praxis: Wer etwa zusagt, im Ausland in den Jihad zu ziehen, und dann auf dem Weg dorthin gestoppt wird, fällt unter § 278b Abs 2 StGB. Genauso eine Jugendliche, die einen syrischen Jihadisten via Skype heiratet und ihre baldige Reise zu ihm in Aussicht stellt. Derartige Verhaltensweisen reichen der Justiz, um regelmäßig drakonische Haftstrafen zu verhängen.

Ausreichende Verdachtslage

Für den späteren Wiener Attentäter bestanden und bestehen also bereits Straftatbestände, die schon im Vorfeld des Attentats ohne besonderen Argumentationsaufwand anwendbar waren. Wenn ein bereits verurteilter IS-Anhänger versucht, Munition zu kaufen, begeht er wohl das genannte Delikt des § 278b Abs 2 StGB und zumindest eine weitere "Terroristische Straftat" (nach § 278c Abs 1 Z 10 StGB). Diese Umstände waren den Polizeibehörden Wochen vor dem Attentat bekannt und begründeten ohne weiteres eine ausreichende Verdachtslage für die sofortige Festnahme und Verhängung der Untersuchungshaft gegen den Wiener Attentäter. Völlig unverständlich ist dabei, warum die Information nicht bis zur Justiz durchdrang – das wird im Detail zu untersuchen sein.

Die Debatte geht aber selbstredend über den Einzelfall hinaus. Die terroristische Bedrohung ist europaweit seit Jahren der diskursive Schauplatz, an dem die Themen Sicherheit und Freiheit verhandelt und gegeneinander ausgespielt werden. Die teilweise populistische Strafrechtspolitik ist dabei bestrebt, unser Strafrecht westlicher Prägung in ein Gefahrenabwehr-, Präventiv- beziehungsweise Feindstrafrecht umzubauen. Es mehren sich die Rufe nach umfangreicher Präventivhaft oder – wie bei Mayer – nach Ausweitung der Vorfeldstrafbarkeit.

Fokus auf Gefährlichkeit und Gesinnung

Nicht mehr der Blick auf eine vollendete Tat soll der zentrale Referenzpunkt sein, sondern das Risiko einer möglichen zukünftigen Tat. Der Fokus soll dann also auf der Gefährlichkeit und Gesinnung eines Menschen liegen, nicht mehr auf seinen Handlungen. Die Gefährlichkeit und Gesinnung müssen sich nach diesem Konzept nicht mehr nach außen hin durch ein (Vorfeld-) Verhalten manifestieren, etwa durch einen Munitionskauf; es soll vielmehr bereits eine alltägliche Handlung eines mutmaßlichen Gefährders reichen.

Grenzfälle sind hier rasch – wie auch von Mayer – konstruiert: Wenn ein Gefährder ein Messer kauft, ohne überhaupt eine Küche zu besitzen, dann könnte dies ein Fall für die angedachten neuen Straftatbestände sein. So einfach ist es aber nur auf dem Papier: Wie ist diese Gefährlichkeit zu messen, die jemand in Gedanken mit sich herumträgt? Wissenschaftlich? Durch eine rechtliche Beurteilung? Durch Umfragen? Durch Medien? Zwangsläufig werden Behörden auf äußere Merkmale zurückgreifen, etwa das Aussehen, Vereinsmitgliedschaften oder eine Religionszugehörigkeit. Wo beginnt die Gefährlichkeit eines Gedankens? Der Rattenschwanz an strafprozessualen Folgefragen scheint unbegrenzt: Wer definiert diese Gefährlichkeit im Ermittlungsverfahren? Wird durch eine solche Einschätzung die Unschuldsvermutung verletzt?

Unspezifischer Verdacht

Nicht zu unterschätzen sind die strafprozessualen Folgen: Da der Verdacht unspezifisch bleibt, wird noch weiter im Vorvorfeld überwacht und observiert. Solche weitgehenden Strafbestimmungen würden letztlich auch Eingriffe und Ermittlungen in grundrechtlich hochsensiblen Bereichen legitimieren. Was dabei ganz vergessen wird, ist, dass sich ein solches Gesinnungsstrafrecht in pandemischer Form gegen jeden richten kann (hier sei an den Tierschützerprozess erinnert).

Mayer ist zuzustimmen, dass es einer minutiösen und vor allem unabhängigen Aufklärung des polizeilichen Behördenhandelns bedarf. Denn nicht die bestehenden strafrechtlichen und verfahrensrechtlichen Instrumente haben versagt, vielmehr haben die Behördenapparate und ihre Kommunikationslinien nicht funktioniert. Diese sind – auf der faktischen Ebene – dringend verbesserungsbedürftig. Das am Mittwoch im Ministerrat beschlossene umfangreiche Antiterrorpaket entpuppt sich damit als Ansammlung populär-populistischer Slogans. Weder ist es ein lösungsorientierter Ansatz noch eine angemessene Reaktion auf das Attentat, welches mit den vorhandenen Instrumenten verhindert hätten werden können. Das Strafrecht kann in der Vermeidung zukünftiger Anschläge eine zentrale Rolle spielen, man muss es aber auch anwenden. Keinesfalls ist es ein Allheilmittel. (Nihad Amara, Philip Marsch, Richard Soyer, 12.11.2020)