Nach dem dreifachen Terrorangriff in Paris mit 150 Toten im Jahr 2015 herrschten international Trauer und Fassungslosigkeit. Auch fünf Jahre später sind die Opfer unvergessen.
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130 Todesopfer, 410 Verletzte und eine in ihren Grundfesten erschütterte Nation: Das war die furchtbare Bilanz des "13 novembre", als Paris von einem dreifachen Terrorangriff heimgesucht wurde. Vor dem Stade de France jagten sich Selbstmordattentäter in die Luft, nachdem sie – zum Glück – nicht zum Freundschaftsspiel Frankreich – Deutschland zugelassen worden waren, drei andere erschossen auf Bistroterrassen des Bastille-Viertels 39 Gäste. Dann folgte, als apokalyptische Vision des modernen Terrorismus gegen hilflose Zivilisten, das Blutbad im "Bataclan".

Die Eagles of Death Metal spielten gerade vor 1500 Fans, als ein vermummtes Trio in den Konzertsaal stürmte und mit Kalaschnikows in die Menge schoss, um dann gezielt Einzelpersonen zu exekutieren. 17 Minuten lang dauerte der Horror. Draußen waren ein paar Soldaten rasch zur Stelle, doch sie erhielten die Weisung, nichts zu unternehmen.

Im Ausnahmezustand

Nur ein mutiger, bis heute unbekannter Polizeikommissar wagte sich mit seinem Chauffeur in den Saal. Er streckte einen Attentäter nieder, der gerade auf einen vor ihm knienden Konzertbesucher zielte. Die zwei anderen Terroristen stellten daraufhin das Töten ein und verbarrikadierten sich mit Geiseln in einem Nebenraum. Nach Mitternacht wurden sie von Elitepolizisten neutralisiert, ohne dass ein weiteres Opfer zu beklagen war. Präsident François Hollande rief in Frankreich den Ausnahmezustand aus.

Aus Syrien übernahm die Medienagentur Amak der Terrormiliz IS die Verantwortung für den Anschlag in Paris, das von ihr als "Stadt der Abscheu und Perversion" bezeichnet wird. Frankreich mobilisierte seine Kräfte, stellte Tausende von Polizisten ein. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen wieder Militärpatrouillen über die Flanierboulevards. In den Schulen wurden Fünf- und Sechsjährige auf Plakaten instruiert, wo sie sich im Fall eines Terrorangriffs zu verstecken hätten.

Die Ermittlung zeigte rasch, dass die Operation aus der syrischen Islamistenhochburg Raqqa ferngesteuert war. Der später in einem Pariser Vorort erschossene Chefkoordinator Abdelhamid Abaaoud hatte seine Instruktionen am Tatabend via Handy aus Brüssel erteilt.

Erschreckend war für die Franzosen, dass die Terroristen aus der Nähe stammten, aus Frankreich und Belgien, wo sie ein teilweise ganz gewöhnliches Leben führten. Zum Beispiel Samy Amimour, der die Musikfans eiskalt hingerichtet hatte: Der Frankoalgerier war im Pariser Vorort Drancy in einer verwestlichten Familie aufgewachsen, hatte einen guten Job als Buschauffeur.

"Banlieue-Terrorismus"

"Diese Jungs aus der zweiten Einwanderergeneration sprechen besser Französisch als ihre Eltern, sie trinken Alkohol, rennen den Mädchen nach", versuchte der Islamexperte Olivier Roy zu erklären. "Eines schönen Tages bekehren sie sich zum Salafismus und verdrehen ihren Nihilismus und Selbsthass in den Hass auf den Westen."

Banlieue-Jugend, Syrien-Krieg, IS-Indoktrinierung – dieser gefährliche Cocktail kam häufiger vor als angenommen, wie die Franzosen nach dem "13 novembre" zur Kenntnis nehmen mussten. Die S-Kartei (das "S" steht für "sûreté", Sicherheit) enthält 12.000 Namen radikalisierter Islamisten. Der sogenannte Banlieueterrorismus wahrt sein überaus gefährliches Potenzial. In den letzten fünf Jahren ist er mutiert, ja metastasiert, wie die drei jüngsten Attentate in Frankreich zeigen. Den Messerangriff von September nahe der ehemaligen Charlie Hebdo-Redaktion verübte ein vor drei Jahren zugereister Pakistaner. Im Oktober ermordete ein 18-jähriger Tschetschene den Geschichtslehrer Samuel Paty; dann brachte ein am Vortag zugereister 21-jähriger Tunesier drei Kirchgänger in Nizza um.

Alle drei Täter kamen von außen und handelten nach ersten Erkenntnissen aus eigenem Antrieb. Der Mörder von Nizza kaufte seine drei Messer nur Stunden vor der Attacke; der Lehrermörder von Conflans musste Schüler dafür bezahlen, dass sie ihm die Person Paty zeigten. Und der Pakistaner, der sich offenbar nur online informierte, glaubte irrtümlich, dass die Charlie-Redaktion immer noch am Ort des Attentates von Jänner 2015 liege.

Keine Profis

"Das sind keine Profis wie die Bataclan-Killer", sagt Olivier Roy heute. "Sie folgen keinem Kalifat, sie sind bloß wütend über eine ‚Gotteslästerung‘. Viele haben ein Suchtproblem; eine Anleitung von außen brauchen sie aber nicht mehr."

Einzelne haben über Komplizen oder Beziehungen zu Radikalislamisten verfügt. Bei der Enthauptung des Lehrers in Conflans genügte ein SMS-Austausch mit einem islamistischen Wanderprediger, der keiner Moschee angehört. "Während sich die Bataclan-Generation häufig über Brüder oder Haftkumpels formiert hatte, handeln die Lowcost-Terroristen heute meist allein", so Roy.

In den Gefährderdateien kommen sie nur selten vor. Das mache die Arbeit für die Ermittler überaus schwierig, meint der Islamexperte, der nicht verhehlt: Der Jihad in Europa braucht keinen Anstoß mehr. Er rollt heute von selbst. (Stefan Brändle, 13.11.2020)