An seine Kindheit in Wien und seine komplizierte Verbundenheit mit der Stadt denkt Josef Eisinger, 96, in der letzten Zeit häufig zurück. Zum letzten Mal war er vor eineinhalb Jahren anlässlich der Präsentation seiner Autobiografie „Flucht und Zuflucht. Erinnerungen an eine bewegte Jugend“ in Österreich zu Besuch. Jetzt, nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie, scheint Wien außer Reichweite zu sein. Obwohl er nur 15 Jahre dort gelebt hat, sind die Geschichte der Stadt, die Sprache und das österreichische Essen tief in seinem Bewusstsein verankert. Bei seinen Wien-Besuchen geht er regelmäßig in das Buffet Trzesniewski für ein paar Brötchen, die er mit einem Pfiff zu sich nimmt. Auch Beuschel und Knödel im Gasthaus Zu den 3 Hacken stehen immer am Wien-Programm.  

„Es gibt in der Natur zahlreiche Tiere – Schmetterlingen, Lachs, Störche oder Aale – die den Instinkt haben, den Drang, in einem bestimmten Lebensabschnitt dorthin zurückzukehren, wo ihr Leben begann. Jetzt, im zehnten Jahrzehnt meines Lebens, geht es mir ähnlich. Unzählige Lieder und Gedichtschnipsel, die ich aus meiner Jugend kenne, kommen mir in diesen Tagen in den Sinn. Wenn ich allein zu Hause bin, artikuliere ich manchmal meine Gefühle laut auf Deutsch und meist auf Wienerisch“, schreibt er in einem Artikel.

Josef lebt gemeinsam mit seiner Frau Styra Avins, einer Cellistin und Brahms-Forscherin, in einem gemütlichen, 200 Jahre alten Townhouse in Greenwich Village in New York City. Die beiden haben das Haus gemeinsam mit großer Sorgfalt renoviert und ihre beiden Kinder dort großgezogen. Im Wohnzimmer sind die Wände mit antiken Holzschnitten, Gemälden, Landkarten, sowie von Josef gefertigten Zeichnungen und Aquarellen bedeckt. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich Bücher bis an die Decke, darunter Torbergs „Tante Jolesch“. Josef ist renommierter Physiker und Molekularbiologe. Er war Professor an der Icahn School of Medicine am Mount Sinai Hospital, nachdem er 30 Jahre lang in den Bell Laboratories als Forscher tätig war. Während seiner Karriere veröffentlichte er circa 150 wissenschaftliche Arbeiten und nach seiner Pensionierung schrieb er zwei Bücher über Albert Einstein, sowie etliche Feuilleton-Artikel.

Josef Eisinger in seinem Arbeitszimmer in New York. Das Foto wurde im Februar 2020 aufgenommen.
Foto: Stella Schuhmacher

Erinnerungen an eine bewegte Jugend

Josef wurde am 19. März 1924 in Wien geboren und wuchs im 3. Bezirk in einer Familie der jüdischen Mittelschicht auf. Die Familie besaß bis 1938 ein Unternehmen, das griechische Schwämme importierte und diese in ganz Österreich vertrieb. Gemeinsam mit seiner drei Jahre älteren Schwester Ilse verbrachte er eine glückliche Kindheit in Wien. Er erinnert sich an Fußballspiele, Ausflüge in den Wiener Wald und seine Zeit im Gymnasium, in dem sein Lieblingsgegenstand Geografie war und er Englisch und Latein lernte. Als Kind besuchte er oft mit seiner Schwester die Wetteruhr im Stadtpark, ein Ort, der ihn nach wie vor magisch anzieht. „Wir maßen unseren Fortschritt in Richtung Erwachsenwerden daran, von wie vielen Treppen der Balustrade wir abspringen konnten. Auf der Marmorplatte der Balustrade sind Linien eingraviert, die die Richtung zu wichtigen Städten zeigen, von New York bis St. Petersburg. Als ich diese als Bub inspizierte, gaben sie mir das Gefühl, dass ich im Zentrum der Welt lebte!“, beschreibt er seine Erinnerungen.

Wetteruhr im Stadtpark. Von Josef gemalt.
Foto: Josef Eisinger

Judenfeindliches Österreich

Mit dem Anschluss legten sich dunkle Schatten über die jüdische Bevölkerung Wiens. “Meine Erinnerungen an den Anschluss sind noch immer überdeutlich. Traumatische Ereignisse vergisst man wirklich nicht.”

„Das Geschäft wurde konfisziert und der Großteil meiner Familie wurde von den Nazis ermordet. Nur meine engste Familie überlebte. Ich denke oft an diese Ereignisse, kann die Erinnerungen kaum loslassen. Mit dem Antisemitismus hatten die Juden in Wien leben gelernt. Ich selbst hatte nur einmal eine solche Erfahrung, als ich acht Jahre alt war und ein Klassenkollege mich 'Saujud' nannte, woraufhin ich ihn niederschlug. Das verursachte einen Skandal in der Schule."

"Nach dem Anschluss versuchten die Nazis, Juden zu entmenschlichen und waren mit ihrer Propaganda damit sehr erfolgreich. Juden wurden immer mehr bedrängt und schließlich umgebracht. Vereinzelte Österreicher leisteten Widerstand gegen die Nazis, was oft vergessen und nicht erwähnt wird. Viele Schriftsteller, Künstler, und Leute, die irgendwie politisch aktiv waren, wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt.“

Im Alter von 15 entkam Josef im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England, wo seine ältere Schwester bereits als Au-Pair-Mädchen arbeitete. Die SA-Männer und Gestapo-Offiziere verspotteten am Bahnhof die unglücklichen Eltern, die sich von ihren Kindern verabschiedeten und nicht wussten, ob sie sie jemals wiedersehen würden. Ein Nazi-Funktionär amüsierte sich damit, die Kinder, die schon im Zug saßen, zu zwingen, ein ihnen bekanntes Volkslied zu singen: „Muss i denn, muss i denn, zum Städtle hinaus, und du mein Schatz bleibst hier…“.

Odyssee durch die Lager

An Neuanfänge, schwere körperliche Arbeit und Entbehrung musste sich Josef rasch gewöhnen. Nachdem er sich in London zunächst mit Hilfe von anderen Flüchtlingen durchschlug, landete er auf einer Farm in Yorkshire, auf der er hart auf dem Feld und im Stall arbeitete. Später fand er Arbeit als Geschirrwäscher in einem Hotel in Brighton. In dieser Zeit fing er an, ein Tagebuch zu schreiben, das folgendermaßen beginnt: „Liebes Tagebuch! Ich fasste den Entschluss dich zu beginnen aus Einsamkeit. Ich will, dass Du mir immer ein guter Freund bist, ein Tröster in traurigen Stunden… Ich bin momentan in einem jämmerlichen kleinen Dorf in England… Ich bin ein Wiener. Ich bin solange in dieser Stadt gewesen bis mich ein Herr aufgefordert hat sie zu verlassen. Es war Herr Hitler.“ Seinen Eltern gelang in dieser Zeit die äußerst gefährliche Flucht aus Wien nach Palästina: Sie dauerte fast ein Jahr und war mit vielen Entbehrungen, sowie einem Schiffbruch verbunden.

Beginn des Tagebuches, das Josef in England führte.
Foto: Josef Eisinger

Mit Fortschreiten des Kriegs und dem Fall Frankreichs stiegen in Großbritannien die Ängste über eine bevorstehende deutsche Invasion und es kursierten Gerüchte über die Existenz einer „Fünften Kolonne“ von Nazi-Saboteuren, die als Flüchtlinge getarnt eingereist waren.  Die britische Regierung beschloss, alle männlichen „feindlichen Ausländer“ zwischen 16 und 60 Jahren, die an der Küste wohnten, zu internieren und so landete Josef in einer Reihe von Internierungslagern, gemeinsam mit anderen Deutschen und Österreichern. Die meisten waren Nazi-Gegner oder Juden.

Nach Lagern in Brighton und Liverpool kam er auf die Isle of Man, wo er sich ein Zimmer mit Walter Kohn, dem späteren Chemienobelpreisträger, teilte. Dies war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Am 5. Juli 1940 wurde Josef schließlich auf dem Schiff Sobieski nach Kanada verschifft, gemeinsam mit einigen seiner neugewonnenen Freunde. An Bord des Schiffes, das als Teil eines Konvois von Handelsschiffen und mit Begleitung einiger Zerstörer zum Schutz den Atlantik überquerte, befanden sich sowohl Zivilinternierte als auch deutsche Kriegsgefangene, eine wilde Mischung.

Josef mit weiteren Inhaftierten in Kanada. 1941. Oben Mitte Josef. Rechts oben Walter Kohn.
Foto: Josef Eisinger

Liebe zu Physik und Musik

In Kanada setzte sich Josefs Reise für weitere eineinhalb Jahre bis zum Jänner 1942 durch zahlreiche Lager fort. Das Misstrauen der kanadischen Behörden gegenüber den Inhaftierten war groß, da sie nicht wussten, ob es sich hier um Nazi-Sympathisanten oder Opfer des Regimes handelte. Bei seiner Ankunft in „Camp B“, das sich völlig isoliert mitten im kanadischen Wald in New Brunswick befand, gab es anfangs keinen Strom, kaum Wasser und nur dürftige Sanitäranlagen. Die Essensrationen waren jedoch großzügig, manchmal gab es Ahornsirup, der den Gefangenen völlig unbekannt war und den sie direkt aus der Flasche tranken.

Die Internierten mussten täglich im Wald arbeiten, fanden aber trotzdem Zeit für endlose Diskussionen. Josef lernte klassische Musik schätzen und erstand in dieser Zeit seine erste Blockflöte. Auch besuchte er eine Lagerschule, die ihn auf das kanadische Matrik vorbereitete, das er schließlich in einem italienischen Internierungslager absolvierte. Über „Camp A“, in das er im Juli 1941 transferiert wurde, und das sich in einer Stadt befand, schreibt er in seinem Tagebuch: „Dieses Lager ist sehr gut… Es gibt viel Arbeit hier. Netze knüpfen, Holzarbeiten, landwirtschaftliche Arbeiten etc… Ich lerne nun Physik mit Walter (Kohn) und habe mich entschlossen, dem neuen Differentialrechnungskurs …beizuwohnen.“ Nach 18 Monaten Internierung notiert Josef trotzdem in seinem Tagebuch: „Das Leben hier geht mir schwer auf die Nerven, obwohl ich eine Menge netter Leute kennengelernt habe, aber das Bewusstsein, nicht frei zu sein, ist schrecklich. Man sieht eben erst, wie viel die Freiheit wert ist, wenn man sie verliert.“

„Ich habe die Zeit, die ich hinter Stacheldraht verbrachte, immer als eine 'gute Sache' in meinem Leben gesehen. Wenn nicht schon die Emigration, dann hat die Internierung mir den Wert der Anpassungsfähigkeit an geänderte Bedingungen vor Augen geführt – eine Lehre, die Charles Darwin verstanden hatte… Diese Monate der Internierung haben nicht nur mein Leben in eine neue Richtung gelenkt, sondern haben mir auch die große Vielfalt der Menschheit aufgezeigt. Wie sonst würde man Zirkusakrobaten, Seefahrer und Mathematikprofessoren auf Augenhöhe kennenlernen?“, resümiert Josef in seinem Buch.

Aufgenommen in Toronto

Es wurde den Behörden schließlich klar, dass es sinnlos war, diese Nazi-Gegner in Gefangenschaft zu halten. Mit Hilfe eines Sponsors konnten die Inhaftierten entlassen werden. Im Oktober 1941 erhielt Josef einen unerwarteten Brief von der Familie Mendel in Toronto, einer jüdischen Arztfamilie, die Berlin bereits 1933 verlassen hatte. „Gestern erhielt ich den wunderbarsten Brief, den ich erhalten konnte, nämlich von Frau Mendel, die versprach, mich und Rappa [Walter Kohn] zu sponsoren. Ich war gerade beim Zahnarzt…und fiel fast vom Sessel“, notierte er in seinem Tagebuch. Josef bezog gemeinsam mit Walter ein Dachzimmer im komfortablen Haus der Familie Mendel und begann, an der Universität von Toronto Mathematik und Physik zu studieren. Das Studentenleben war abwechslungsreich, Josef spielte Flöte im Symphonieorchester, fochte und spielte Fußball. Während der langen Sommerferien arbeitete er als Goldgräber im nördlichen Quebec. Sobald es ihm als „feindlichem Ausländer“ erlaubt war, meldete er sich freiwillig bei der kanadischen Armee. Er durchlief die Ausbildungen, wurde aber nicht in Europa eingesetzt, was der Armee zu gefährlich schien, sondern bildete Infanterie-Soldaten aus.

Als Goldgräber im nördlichen Quebec unterwegs. Sommer 1944.
Foto: Josef Eisinger

Kurz nach dem Krieg 1947 wollte er seine Eltern nach acht Jahren der Trennung in Palästina besuchen. Um sich die Reise dorthin zu ermöglichen, heuerte Josef auf einem Frachtdampfer als Seemann an.  Einige Jahre später ließen sich seine Eltern und Schwester in Toronto nieder, während ihn seine wissenschaftliche Karriere in die Vereinigten Staaten weiterführte. Zunächst war er als Kernphysiker am MIT in Massachusetts tätig, dann auf der Rice Universität in Texas, bei Bell Labs in New Jersey, und schließlich in New York City.

Konzentriert euch auf die Fakten

Das Verdrängen der Vergangenheit habe in Österreich lange angehalten, aber die jetzige Generation habe dies überwunden, meint Josef. Er fühlt sich dieser Tage sehr wohl in seiner Geburtsstadt, wo er neue Freundschaften geschlossen hat. Allerdings erinnert er sich an ein Gespräch mit dem Besitzer des Hauses seiner Kindheit, als er 1970 mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern Wien besuchte. Nach einer Weile wandte sich dieser Herr an Josef und fragte in kultiviertem Wienerisch: "Sagens mir bitte, Herr Eisinger, warum haben Sie eigentlich Wien verlassen?" Josef sagte ihm, dass er Jude sei, worauf der Hausherr erwiderte „Ah so, ah so!“. Er hatte alles einfach vergessen, schmunzelt Josef.

Im Stadtpark in Wien. Aquarell von Josef Eisinger.
Foto: Josef Eisinger

Auf den gegenwärtigen Anstieg von Antisemitismus angesprochen meint er: „Viele Menschen fühlen sich durch fremde Elemente bedroht, es ist eine uralte Gewohnheit der Menschen, die leicht zu sinnloser Gewalt führen kann. Politiker wie Herr Trump machen von diesem Charakterzug Gebrauch, und verkündigen ihren Anhängern angebliche Verschwörungen (zum Beispiel Deep State). Als er gewählt wurde, gerieten viele meiner Freunde und Bekannten in Panik.“ Um sie zu beruhigen sagte Josef: „Ich erinnere mich gut an die McCarthy-Ära, die ebenfalls schrecklich gefährlich war. Damals verlief die Spaltung entlang politischer Linien und es sah ziemlich schlecht aus. Aber schließlich wurde sie von einer funktionierenden Demokratie und Vernunft überwunden. Auch der Vietnamkrieg führte zu Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Manchmal benötigen wir eine Krise, um uns wieder dem Ideal der Demokratie zuzuwenden. Wir haben ja kein besseres.“

Welt im Wandel

„Heutzutage interessiere ich mich mehr für die großen Themen, zum Beispiel Klimawandel. Mit Trump als Präsident gibt es wenig Zusammenarbeit zwischen den Nationen, was wesentlich zur Bekämpfung des Klimawandels ist. Vor zwei Milliarden Jahren begannen bestimmte Bakterien, Sonnenlicht durch die Photosynthese in chemische Energie umzuwandeln und als Nebenprodukt Sauerstoff zu erzeugen, wodurch Sauerstoff in die Atmosphäre gelangte. Was die Menschheit heute mit der maßlosen Erzeugung von Kohlendioxid vollbringt, ist ziemlich ähnlich, passiert allerdings viel, viel schneller. Die katastrophalen Folgen, das heißt Klimawandel, können nur durch Kooperation aller Nationen verhütet werden.

Und das ist nicht die einzige Gefahr die uns bedroht. Die Technologie ermöglichte einen unglaublichen Aufschwung der Kommunikation, die unermessliche politische und kulturelle Folgen haben wird. Als ich bei Bell Labs war, war ich mit dem Mann befreundet, der den ersten Transistor unter einem Mikroskop gebaut hat.  Das war der Nobelpreisträger Walter Brattain, der heute sehr erstaunt wäre, wie schnell sein winziger Transistor die ganze Welt verändert und welche unvorhersehbaren Folgen sein Gerätchen hervorgerufen hat.“

Einen Ratschlag für die nächsten Generationen kann Josef kaum geben. Dafür, meint er, werden sich die zukünftigen Probleme der Welt zu schnell ändern. „Aber wichtig bleibt es, dass wir auf Wissenschaft und die Fakten bestehen und dass wir uns nicht von Slogans und Ideen überzeugen lassen. Kritisches Denken sollte eigentlich in der Schule unterrichtet werden.“ (Stella Schuhmacher, 19.12.2020)

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