Entscheidend sei nicht, welche Konstellation auf den ersten Blick zusammenpasst, sondern welche Inhalte als Basis für die Regierungszusammenarbeit vereinbart werden. Über diese Vereinbarung sollten die Mitglieder der SPÖ Wien maßgeblich mitentscheiden dürfen, fordern Andrea Schmidt und Oliver Zwickelsdorfer von der Sektion 8 der SPÖ Alsergrund im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Gastbeitrag von Klara Butz und Michael Spiekermann: "Kann Rot-Pink zur Klimakoalition werden?".

Die Koalitionsverhandler der SPÖ: Bürgermeister Michael Ludwig und Landesparteisekretärin Barbara Novak.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Die Stadt Wien zeigt in diesen Tage ihre Stärke im Zusammenhalt. Trotz Terrors. Trotz Corona. Für die Öffentlichkeit hat sich dadurch verständlicherweise die Regierungsbildung in Wien nach der Landtagswahl am 11. Oktober auf einen Nebenschauplatz verlagert. Öffentlich bekannt ist bisher nur, dass die Koalitionsverhandlungen mit den Neos in den Untergruppen fertig sind und noch bis Mitte November laufen. Die wesentlichsten politischen Entscheidungen am Beginn der Wahlperiode werden also in diesen Tagen vorbereitet.

Wie nachhaltig kann die SPÖ ihre eigenen Forderungen umsetzen?

Fokus auf Inhalte

Farbenlehre hin oder her: In den Medien ist immer wieder vom ungleichen Machtverhältnis zwischen den Partnern die Rede, wenn es darum geht, eine potenzielle Koalition zwischen SPÖ und Neos einzuordnen. Das Augenmerk muss in einer Regierungszusammenarbeit darauf gelenkt werden, wie nachhaltig die SPÖ die eigenen Forderungen und Inhalte umsetzen kann und ob die eigene Handschrift im gemeinsamen Regierungsprogramm sichtbar ist. Inhalte sollen bei der Partnerwahl daher jedenfalls im Vordergrund stehen. Erfolgreich sind Koalitionsverhandlungen für eine Partei dann, wenn man den Großteil der eigenen Vorschläge verwirklichen kann.

Ein Beispiel dafür ist das Thema der öffentlichen Daseinsvorsorge: Es ist nicht entscheidend, ob die Neos diese grundsätzlich privatisieren wollen, sondern ob die SPÖ die öffentliche Daseinsvorsorge auch in dieser Konstellation sicherstellen und ausbauen kann. Die Fokussierung auf Inhalte trägt zudem zu einer Versachlichung der innerparteilichen Diskussion über die neue Koalition bei. So können auch die divergierenden Vorlieben der SPÖ-Parteimitglieder abgeholt werden – schließlich wird auf gemeinsamen Beschlüssen aufgebaut.

Beispiel Deutschland

Die Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen wäre für die SPÖ eine neue Form der Mitgliederbeteiligung und mit Unsicherheit verbunden. Erfahrungen aus Deutschland zeigen aber, dass die Angst vor dem Votum der Basis unbegründet ist: Nicht nur in der SPD, sondern auch bei Grünen und Linker ist es üblich, dass über Koalitionsübereinkommen in Mitgliederabstimmungen entschieden wird. In der SPÖ entscheidet hingegen in der Regel einzig der Vorstand über den Koalitionsvertrag. Die Vorentscheidung fällt meist schon in Präsidium, also einem sehr kleinen Kreis: Solche Top-down-Prozesse machen die Koalitionsbildung für die Parteiführung einfacher, aber bedeutend undemokratischer.

Eine Urabstimmung erfordert ein bisschen Mut. Zu gewinnen gibt es aber viel, wie das Beispiel der SPD gezeigt hat: Die Koalition bekommt eine breite Legitimation bei den Mitgliedern. Diese Unterstützung wird insbesondere bei schwierigen Koalitionsentscheidungen benötigt – das war bei der SPD in den Jahren 2013 und 2017 der Fall. Zudem ist die Parteiführung gezwungen, das Verhandlungsergebnis den Mitgliedern und damit auch der Öffentlichkeit zu erklären. Die SPD jedenfalls hat ihre Verhandlungsmacht gegenüber der CDU drastisch erhöht, indem sie am Verhandlungsende ein Mitgliedervotum über das Koalitionsabkommen abgehalten hat.

Starke Position

Internationale Erfahrungen zeigen, dass es keinen Grund gibt, Angst vor Mitgliederbefragungen zu haben. Beispiele von Koalitionsverträgen, die in Mitgliederbefragungen gescheitert sind, sind nicht bekannt. Der strategische Vorteil liegt auf der Hand: Muss die Basis abstimmen, kann sich die Partei nicht über den Tisch ziehen lassen. Die Mitgliederbefragung stärkt also die Verhandlungsmacht. Die SPÖ Wien agiert aus einer starken Position, die durch eine Mitgliederbefragung weiter verbessert würde und mit ein wenig Geschick auch auf den Bund ausstrahlen könnte.

Den Mitgliedern die Entscheidung über Koalitionsverträge in die Hand zu geben lag bis vor kurzem auch in der SPÖ nicht in allzu weiter Ferne. Nur rund zwei Jahre ist es her, dass eine Mitgliederbefragung zur Parteireform unter Christian Kern den Weg zu mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten ebnen sollte. Die vier Vorschläge zur Organisationsreform trafen auf große Zustimmung bei den Mitgliedern: Über 72 Prozent der Befragten wollten, dass Koalitionsverträge verpflichtenden Mitgliederbefragungen unterzogen werden. Leider wurde der Beschluss aus der Mitgliederbefragung am Bundesparteitag bislang nicht umgesetzt.

Farbe bekennen

Klar ist: Die SPÖ muss im Zuge der Regierungsbildung Farbe bekennen, ganz egal wer sonst noch auf der Palette der Stadtregierung mitmischen wird: Wofür steht die Partei im Jahr 2020, und was will sie für die Stadt erreichen? Die aktuelle Regierungsbildung gibt ihr eine Chance, Entscheidungsfindungen in der sozialdemokratischen Bewegung zu modernisieren. Will eine Partei heute für Mitglieder attraktiv sein, so muss sie diesen Mitbestimmungsmöglichkeiten bieten. Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass Entscheidungen in einem kleinen Gremium hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Mittragen müssen die Politik der SPÖ Wien und ihrer Partnerin in den nächsten Jahren alle Mitglieder gemeinsam – warum also nicht gleich gemeinsam die Zukunft der Stadt auf der sozialdemokratischen Leinwand skizzieren? Wann, wenn nicht jetzt? Es gibt viel zu gewinnen. (Andrea Schmidt, Oliver Zwickelsdorfer, 13.11.2020)