"Ich bin eigentlich immer da", schreibt A. L. Kennedy auf die Interviewanfrage Anfang November zurück, weil: "There is nowhere to go", abgesehen davon, einen Spaziergang zu machen oder mit dem Kajak zu fahren. Auch die Briten sind mitten in der zweiten Welle. Seit 2016 wohnt die schottische Schriftstellerin im englischen Essex auf dem Land.

Interviews finden jetzt ausschließlich auf Zoom statt. A. L. Kennedy kann auch leider nicht nach Krems zu den Europäischen Literaturtagen kommen, die finden jetzt online statt – auch die Preisverleihung an Kennedy am Sonntag, 22. November.
Screenshot: Mia Eidlhuber

Zum Online-Interview kommt sie dann trotzdem eine halbe Stunde später als vereinbart, es gab kurz eine Panne mit der Elektroauto-Ladestation, alles kompliziert. Aber jetzt ist sie da am Zoom-Bildschirm, und ihr scharfsinniger, schmaler Kopf verschwindet in einer großen, weichen Sessellehne aus braunem Leder. Dahinter füllt ein vollgeräumtes, rot gestrichenes Bücherregal den Hintergrund aus. Am 22. November bekommt Sie vom österreichischen Buchhandel den Ehrenpreis für Toleranz in Denken und Handeln verliehen. Online, versteht sich.

STANDARD: Gratulation zum Preis. Wie lange hatten Sie gedacht, dass Sie tatsächlich nach Österreich kommen, um ihn entgegennehmen zu können?

Kennedy: Das dachte ich ganz schön lange. Ich wollte vorher in die Schweiz und dann nach Krems kommen.

STANDARD: There is nowhere to go, diesen Satz haben Sie gemailt. Wie hat Corona Ihr Leben verändert?

Kennedy: Emotional hat sich alles verändert, weil man sich ständig um Menschen sorgt. Finanziell wird es für mich erst nächstes Jahr problematisch, da habe ich noch Glück. Und körperlich: Ich sitze immer zu Hause und schreibe. Ich habe jetzt sogar mehr Zeit, spazieren zu gehen oder Kajak zu fahren. Ich hatte Covid sehr früh und leide jetzt unter Post-Covid-Beschwerden. Die vergangenen Wochen und Monate bin ich einfach viel herumgelegen.

STANDARD: 2016 sind Sie aufs Land gezogen. Sind Sie froh darüber?

Kennedy: Oh ja. Ich wollte schon 2014 aus London weg, aber es hat gedauert. London hat eine hohe Luftverschmutzung, man kann kaum atmen, ich bekam Hautausschläge, und es ist sehr laut. Die Leute sind nett, aber es ist ein hartes Pflaster, um dort ständig zu leben.

STANDARD: Ihr aktuellstes Buch, eine Kurzgeschichtensammlung, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, heißt "We Are Attempting to Survive Our Time". Ein unglaublich zeitgemäßer Titel. Hat der mit Corona zu tun?

Kennedy: Nein, das Buch war schon länger fertig und erschien in der dritten Lockdown-Woche. Wir leben hier schon mehr als zehn Jahren mit dieser Regierungspartei. Es fühlt sich an wie in einer Todeszone. Alle, die verletzlich sind, versuchen hier nur noch zu überleben.

A. L. Kennedy über das Leben in Großbritannien: "Alle, die verletzlich sind, versuchen hier nur noch zu überleben."
Foto: Robin Niedojadlo

STANDARD: Ihre Erzählungen sind allesamt sehr dunkel. In einer kommt das deutsche Wort "Leitmotiv" vor. Können Sie umreißen, was das Leitmotiv für dieses Buch war?

Kennedy: Dass Menschen eine harte Zeit durchleben. Nicht du und ich persönlich, aber viele Menschen wie du und ich haben es sehr schwer. Und die Medien nehmen das kaum noch auf.

STANDARD: Ich las Ihr Buch kurz nach dem Attentat von Wien. In einer Geschichte steht der Satz: "Cafes make you have a faith in civil stability. But these monsters like cafes as well". Haben Terroranschläge Ihr Schreiben je beeinflusst?

Kennedy: Es gibt immer wieder Anschläge aus mehr oder weniger logischen Gründen. Das ist nicht neu. Aber wir haben eine Politik und auch Medien, die in komplette Panik verfallen und so tun, als hätte es das nie zuvor gegeben. Es gibt einen enormen Kampf der Kulturen, und es gibt immer Leute, die sich manipulieren lassen, damit sie furchtbare Dinge tun. Im Moment gibt es eine Menge Leute, die vieles rausschreien und sich dabei großartig fühlen, während sie schreckliche Taten begehen.

"Es gibt immer eine Menge Leute, die sich manipulieren lassen, damit sie furchtbare Dinge tun."

STANDARD: Ihre Figuren sind alle verzweifelt, einsam und haben immense Verluste zu integrieren. Warum gehen Sie in Ihrer Literatur immer dorthin, wo es schmerzt?

Kennedy: Ich bin an Hollywood-Geschichten nicht interessiert. Sie sind unwahr. Nur wenige Menschen leben ein Hollywood-Leben. Es ist außerdem langweilig und moralisch fragwürdig. Ich bin an Geschichten von Menschen interessiert, die sich in furchtbaren Situationen außergewöhnlich verhalten. Das ist viel eher die Realität von Menschen. Menschen sind herausragend. Sie gehen sich eben nicht gegenseitig an den Kragen, sie sprengen sich nicht gegenseitig in die Luft, obwohl sie oft gute Gründe hätten, es zu tun. Haben Sie den David-Chappelle-Stand-up-Monolog auf Saturday Night Live am Wochenende gesehen? Plötzlich gehen weiße Mittelklassemenschen auf die Straße, und sie demonstrieren eigentlich für sich selbst. Weil das, was Schwarzen schon die längste Zeit passiert, jetzt auch ihnen passiert, und plötzlich gibt es diese Betroffenheit und Wut. Wenn ich mit Schwarzen rede, sagen die: Ja, wenn man es nicht schafft, auf alle Menschen zu schauen, dann trifft es einen irgendwann selbst.

In der US-Satiresendung Saturday Night Live spricht Comedian David Chappelle über die Präsidentenwahl 2020 und Covid-19.
Saturday Night Live

STANDARD: Die Menschen in Ihren Geschichten machen immer wieder Fehler und entschuldigen sich sogar dafür. Leben wir heute in einer Gesellschaft, die solche Fehler nicht verzeiht?

Kennedy: Ich finde gar nicht, dass die Menschen da draußen so viele Fehler machen. Sie haben sich bloß auf ein System verlassen, in das sie investiert haben für den Fall, dass es ihnen schlecht geht. Aber dieses System gibt es nicht mehr. Viele Menschen wurden damit komplett zerstört. Es gibt keinen Grund, zu Hause keinen Strom zu haben oder zu hungern. Es kann keinen Grund geben, dass ein Zuhause zu einem kleinen Ghetto wird, in dem man zugrunde geht. Nicht in einem Staat, in dem es so viel Geld gibt. In dieser Corona-Krise geben wir Millionen Pfund für Schutzausrüstungen, Tests und Tracing-Apps aus, und nichts funktioniert. Aber wir können Kindern, die hierzulande hungern, nicht helfen. Das ist unglaublich.

STANDARD: Jemand schrieb über Sie, Sie schauten genauer hin als andere. Wie machen Sie das?

Kennedy: Oh, keine Ahnung. Ich mache das nicht bewusst. Ich denke, so lebe ich. Aber es freut mich, wenn es stimmt. Andererseits würde das auch bedeuten, dass andere nicht so genau hinschauen, und das wäre wiederum schlecht. Aber tatsächlich verbringe ich seit 30 Jahren sehr viel Zeit damit, meine Figuren in Romanen und Geschichten mit einem reichen Innenleben auszustatten. Und nach 30 Jahren wird man hoffentlich auch gut in dem, was man tut. Aber dieses Jahr habe ich es zum Beispiel nicht geschafft, einen Roman zu schreiben.

"Ich bin gern alleine auf Berge gegangen. Da machst du etwas, wobei du sterben könntest. Das ist gut fürs Denken."

STANDARD: Hatte das auch mit Corona zu tun?

Kennedy: Viele Leute waren in den vergangenen Monaten nicht sehr fokussiert. Auch ich habe mich tatsächlich nicht sehr wohlgefühlt. Ich bin derzeit nicht unter Vertrag für meinen nächsten Roman. Das heißt, ich muss abseits vom Romanschreiben arbeiten, um Geld zu verdienen. Ich mache Kurzgeschichten für Magazine, Hörspiele, Radioessays und auch ein Libretto für eine Oper. Und natürlich auch Onlinelesungen für Festivals. Und ich muss im Moment tatsächlich sehr zerstreut sein, denn ich schreibe sogar Gedichte. Das kann nur heißen, dass die Welt in Scherben liegt – und ich mit ihr. (lacht) Und ich habe auch ein Pamphlet für die Black-Lives-Matter-Bewegung geschrieben: Look At Me How heißt es und wurde vom Verlag The Common Breath herausgegeben.

STANDARD: Sie hatten im Frühjahr 2020 auch eine Brexit-Kolumne in der "Süddeutschen Zeitung". Der Brexit ist noch nicht vorbei ...

Kennedy: ... oh nein, und der Schaden ist immens, und wir schaffen keine gute Zusammenarbeit mit der EU. Mit dem Brexit haben wir so viele menschliche Ressourcen verloren: Wissenschafterinnen, Ärzte, Krankenpflegerinnen, so viele haben diesen entsetzlichen Ort verlassen. Der Brexit-Schmerz wird seit 2016 immer nur schlimmer. Jetzt werden wir an die USA verkauft mitsamt unserem Gesundheitssystem. Auch wenn das alles heute vorbei wäre, es bräuchte eine ganze Generation, um diesen ganzen Schaden wiedergutzumachen.

STANDARD: Gibt Ihnen die Wahl von Joe Biden zum US-Präsidenten Hoffnung?

Kennedy: Er ist okay, einfach ein Durchschnittspolitiker und keine offensichtliche Quelle des Wahnsinns wie Donald Trump. Biden ist für People of Color viel weniger bedrohlich als Trump. Schwarze werden dann vielleicht nicht mehr einfach so umgebracht. Ja, das ist schon ein Vorteil. Er scheint menschliche Gefühle zu haben, und er ist höflich. Es gibt so viele Menschen, die eine Regierung sabotieren wollen. Dasselbe gilt für Großbritannien übrigens auch.

STANDARD: Haben Sie jemals überlegt, Großbritannien zu verlassen?

Kennedy: Gott, ja! Ich wache auf und denke daran wegzugehen. Es gibt diese Restchance, dass Schottland unabhängig wird. Sollte das irgendwann der Fall sein, wäre ich in der Sekunde dort. Auch weil ich Schottland vermisse. Biden könnte da hilfreich sein, er versteht den Unabhängigkeitsprozess.

A. L. Kennedy, "We Are Attempting to Survive Our Time". Jonathan Cape, London 2000. Das Buch ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Foto: Jonathan Cape

STANDARD: In den Zeiten von Corona kochen die Leute, schauen Netflix, musizieren und lesen. Ich nehme an, Sie haben viel gelesen?

Kennedy: Ja, ich hatte und habe tatsächlich mehr Zeit zum Lesen. Ich habe verschiedene Bücher in verschiedenen Räumen. Ich lese immer zwei, drei Bücher gleichzeitig, ein Bettbuch, ein Frühstücksbuch und noch eines. Im ersten Lockdown las ich Petersburg von Andrei Bely von 1913, fieberhaft verrückt, am Ende ist alles im Chaos versunken. Das war sehr verstörend und die perfekte Corona-Lektüre. Dann habe ich Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien wieder gelesen. Es ist ein tolles Buch, um durch schwere Zeiten zu kommen. Der Autor wusste Bescheid, er war Erster-Weltkrieg-Veteran. Und nur um zu schauen, wo wir uns befinden, habe ich viele Holocaust-Bücher gelesen. Im Moment lese ich The Brutish Museums, ein Buch über Kolonialismus.

STANDARD: Hören Sie Podcasts?

Kennedy: Ich liebe Podcasts. Ich schlafe sogar mit Podcasts ein. Meine Favoriten: Last Podcast on the Left, Someone Knows Something, CBC-Podcasts (Canadian Broadcasting Corporation) sind toll, BBC-Podcasts hingegen schwach. Ach ja, und ich mache gerade ein Audiotagebuch übers Romanschreiben, aber das bleibt vorerst unter Verschluss. Da wäre ohnehin nur zu hören, wie müde und verwirrt ich die ganze Zeit bin. Aber es gab auch einen Durchbruch: Ich habe endlich meinen ersten Satz für den Roman.

STANDARD: Gratuliere! Ich las in einem Porträt über Sie, dass Sie im Liegen schreiben?

Kennedy: Das ist der Sessel! (A. L. Kennedy zeigt es vor, rutscht runter, kippt nach hinten, und sie liegt jetzt, man sieht im Zoom-Fenster nur noch einen kleinen Teil ihres Kopfes. Sie lacht.) Ja, Sie sehen, es stimmt. Da tut einem nichts weh.

STANDARD: Bei den Europäischen Literaturtagen, die jetzt online stattfinden müssen und an deren Ende Sie am 22. November ausgezeichnet werden, geht es um das Thema "Wildnis". Haben Sie Assoziationen dazu?

Kennedy: Ich mag Wildnis. Ich bin immer gern alleine auf Berge gegangen. Da machst du etwas, wobei du sterben könntest. Das ist gut fürs Denken und dafür, die Dinge wieder zurechtzurücken. Es ist hilfreich zu wissen, wie klein du bist. Klein und zerbrechlich.

STANDARD: Sind die Menschen in der zweiten Corona-Welle jetzt noch depressiver?

Kennedy: Jetzt kommt die wirtschaftliche Komponente ins Spiel. Die Leute müssen und wollen ihre Geschäfte offen halten. In Großbritannien gibt es aber schon seit einem Jahrzehnt eine enorm hohe Selbstmordrate. Verspätungen, weil sich Menschen vor den Zug schmeißen, sind etwas Normales geworden. Die Leute hier sind verzweifelt, weil ihnen niemand hilft. Weil es weiter ein System gibt, wo die Politik Millionen in die Schlunde von Freunden schaufelt. Ich treffe mich jeden Abend mit Freunden auf Zoom. Wenn Boris Johnson vorher eine Pressekonferenz gegeben hat, ist jeder depressiv. Der Gedanke, dass er für irgendetwas anderes zuständig sein könnte abseits davon, sich eine Tasse Tee zu machen, ist komplett absurd.

STANDARD: Eine Ihrer Geschichten endet mit der fatalen Frage: "What the hell am I going to do now?" Wissen Sie es vielleicht?

Kennedy: Am Leben bleiben, weiter kämpfen. So fröhlich wie möglich bleiben. Trotz der herrschenden Politik. So hoffnungsvoll wie möglich bleiben. Trotz der herrschenden Politik. Die Tage nutzen. So nett wie möglich zu anderen sein. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 14.11.2020)