Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite.

Mäßigung gehört nicht zum Zeitgeist. Insbesondere, wenn es um die eigene Befindlichkeit geht. Wer von sich selbst dermaßen berauscht ist, will auch die anderen daran teilhaben lassen. Beherrschung ist etwas für Asketen. Gelassenheit für Reiche. Ironie für Überlebende.

Solmaz Khorsand: "Das eigene Pathos darf gedrosselt werden. Nur ab und zu."
Foto: Kremayr & Scheriau / Mercan Sümbültepe

Dem Rest bleibt nur das Pathos. Mit bebendem Tremolo und zeternder Stimme, absurden Metaphern und Stakkato-Interpunktion muss das eigene Drama möglichst breitenwirksam zur Geltung kommen. Schließlich ist alles auch eine Frage der richtigen Inszenierung. Denn wer sich im Pathoskonzert behaupten will, muss eine Performance an den Tag legen, die sich analog und digital so von den anderen abhebt, dass sie auch tatsächlich gehört, gesehen, gespürt und vor allem angeklickt wird.

Macht und Veränderung

Pathos bedeutet Macht. Erst wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen die Dinge ins Rollen. Dann erst werden vermeintliche Werte und Normen plötzlich infrage gestellt. Mit einem Mal interessiert sich die Öffentlichkeit für die Erforschung einer Krankheit, für die es davor keine Gelder gab. Plötzlich werden Gesetze verabschiedet, die davor nur eine Minderheit betrafen. Plötzlich werden Statuen von der Straße in Museen verbannt, weil sie nun nicht nur für ein paar Übersensible, sondern für die Allgemeinheit eine dunkle Ära repräsentieren.

Pathos bedeutet Veränderung. Kann Veränderung bedeuten. Denn sein Einsatz spiegelt die herrschenden Machtverhältnisse wider. Wer traut sich, öffentlich seiner Befindlichkeit zu frönen? Wer bekommt den Raum dafür zugestanden und wer nicht? Wer wird dabei ernst genommen und wer pathologisiert?

Macht es einen Unterschied, ob eine Frau ihre Gefühlswelt mit der Welt teilt oder ein Mann? Eine Schwarze oder eine weiße Frau? Eine Schwarze oder weiße Frau, die obdachlos ist, die im Rollstuhl sitzt, die Alleinerzieherin ist?

Ja, ja und ja. Es macht einen Unterschied. Den einen wird für ihren Mut gratuliert, sie werden für ihre Sensibilität gefeiert, dafür, dass sie bereit waren, dermaßen intime Einblicke in ihre Realität, ihren Alltag, ihre Verletzlichkeit zu gewähren. Die anderen sollen bloß nicht pathetisch werden, so viel jammern und immer nur fordern. Den einen wird ihr Pathos in Gesetzesinitiativen übersetzt und schafft es auf die politische Agenda, in den medialen Diskurs. Bei den anderen reicht es höchstens für eine Gegenforderung: Resilient soll man ein bisschen sein. Ist doch alles nicht so schlimm, oder?

"Die Reichen sind anders als wir", hat der amerikanische Autor F. Scott Fitzgerald in seiner 1926 erschienenen Short Story The Boy geschrieben, "sie sind weich, wo wir hart sind."

Ein Stück vom Pathoskuchen

Wem zugestanden wird, weich zu sein, der darf bei der kleinsten Unannehmlichkeit aufheulen. Wem Verständnis verwehrt wird, der muss schon härtere Geschütze auffahren, um sich Gehör zu verschaffen. Bei ihm muss das Erlebte "richtig schlimm" sein. Richtig schlimm und richtig oft. Erst mit der "Intensität des Schweregrads" und der "Extensität der Frequenz" hat eine Minderheit die Chance, von einer stillen Mehrheit gehört zu werden, sagt der deutsche Kommunikationswissenschafter Armin Scholl. Erst dann zum Beispiel, wenn genug Schwarze Körper unter weißen Knien ersticken, setzt sich etwas in Bewegung. Dann spitzen sich plötzlich die Ohren aller. Dann färben sich selbst bei den unpolitischsten Menschen die oft so bunten Kacheln in den sozialen Medien schwarz.

Solmaz Khorsand, "Pathos". € 18,– / 128 Seiten. Verlag Kremayr & Scheriau, 2021. Das Buch erscheint im Februar 2021.
Foto: Kremayr & Scheriau

Wenn das Extrem erreicht ist, gibt es für alle ein Stück vom Pathoskuchen. Aber nicht eher. Und auch nur, wenn sich das Pathos so darstellt, wie es von einer Mehrheit erwartet wird. Dann erst kann ihm eine Bedeutung zugeschrieben werden. Ohne die richtigen Codes ist es zwecklos. "Es genügt nicht, dass man etwas sagt. Es gehört im richtigen Moment, im richtigen Tonfall und in der richtigen Intensität gesagt", erklärt die Wiener Psychoanalytikerin Ulrike Kadi im Gespräch. Wer das nicht tut, läuft Gefahr, nicht nur nicht gehört zu werden, sondern als Lügner oder Simulantin abgestempelt zu werden. Auch Pathos muss sich an ein Skript halten. Nur dann hat es eine Chance, auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Raumeinnehmender Lärm

Es ist ermüdend, dem Pathoskonzert auf Dauer zuzuhören. Insbesondere, wenn es einer Melodie folgt, die sich permanent wiederholt, da sie immer von denselben Akteuren gesummt wird.

Vielleicht auch deswegen, weil dadurch das eigene Pathos keinen Raum für seine Wirksamkeit hat. Weil das fremde Pathos so dominant ist, dass es sogar in die hintersten Winkel des eigenen Selbst zu wirken beginnt. Fast so, als stünde man unter fremder Besatzung.

"A writer by definition is pathetic", soll der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Ethan Coen einmal gesagt haben. Daher ist natürlich auch dieser Text ein pathetischer Ausbruch. Obgleich dieser ausgelöst wurde von Pathos-Fatigue, genährt durch die Beobachtung einer privilegierten Schicht, die mit einer Dringlichkeit ihre Befindlichkeit kundtut, als verdiene jedes Gefühl und jeder Gedanke die Bühne und die Gravitas, mit der das persönliche Drama einer Öffentlichkeit mitgeteilt wird.

Das tut es nicht. Es ist Lärm, der Raum einnimmt, der Diskurse bestimmt, der Aufmerksamkeit bündelt und monopolisiert. Daher der pathetische Appell: Bitte hin und wieder diese Bühne zu räumen. Hin und wieder die Lautstärke runterzudrehen. Hin und wieder einfach nur still zu sein. Es ist ein Appell vor allem an all jene, die sich gerne als Verbündete einer guten Sache verstehen. Das eigene Pathos darf gedrosselt werden. Nur ab und zu. (Solmaz Khorsand, 16.11.2020)