Mitglieder der feministischen Organisation "Collages Feminicides Paris" posierten im August 2020 vor den Namen von über hundert Frauen, die seit August 2019 getötet wurden.

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Die zweite Coronawelle schwappt über Frankreich, und seine Medien debattieren eifrig über Themen wie Schutzmasken, Sperrzonen oder Wirtschaftsfolgen. Anders Caroline De Haas. Als die Regierung in Paris Ende Oktober neue Ausgangssperren ankündigte, twitterte die bekannteste Pariser Feministin: "Jedes Mal, wenn man von einem teilweisen oder vollständigem Lockdown spricht, denke ich an die 213 000 Frauen, die in Frankreich mit einem gewalttätigen Partner zusammenleben."

Anstieg der Anzeigen

Die Zahl ist natürlich nicht aus der Luft geholt: Sie entspricht den jährlichen Meldungen wegen Ehegewalt in Frankreich. Im Unterschied zu Ländern wie Italien oder den USA ist die Tendenz in Frankreich in der Coronaphase steigend. In der ersten Welle haben die Anzeigen bei der Polizei um 30 Prozent zugenommen. Überdurchschnittlich betroffen sind sozial randständige Viertel, wo die Wohnfläche pro Person entsprechend gering ist. Wo also Familien nahe beieinander leben. Um nicht zu sagen aufeinander. Wie dramatisch die Lage ist, zeigt ein Blick in die Facebook-Adresse "Féminicides par compagnons ou ex", zu Deutsch etwa: "Morde an Frauen durch ihre aktuellen oder ehemaligen Partner." Im Schnitt alle drei Tage kommt ein neuer Fall zusammen, was aufs Jahr landesweit über hundert Femizide ausmacht. Es ist eine schreckliche, tragische, bisweilen makabre Liste, die von Alkohol und Arbeitslosigkeit, blanken Nerven und Dominanz, ja den Abgründen einer Alltagsbeziehung berichtet. Mit Opfern, deren langes Leiden vor der Ermordung wohl nicht einmal zu erahnen ist.

Das Problem ist in Frankreich natürlich nicht erst seit dem Aufkommen des Coronavirus erkannt und bekannt. Schon während der ersten Welle im März und April gab es zahlreiche Initiativen, um den betroffenen, häufig isolierten Frauen eine Kontaktmöglichkeit zu bieten. Mehrere Notrufnummern wurden aktiviert oder reaktiviert.

Unauffällige Hilfe

Dazu kommen nun neue Apps wie "Arrêtons les violences" (Stoppen wir die Gewalt) oder "En Avant Toutes" (Vorwärts alle Frauen). Eine originelle Operation erlaubte es Frauen schon im Frühjahr, sich direkt beim Einkaufen im Supermarkt an Psycholog*innen und Jurist*innen zu wenden (die FR berichtete) – diese Operation wird nun auf einzelne Apotheken ausgedehnt. Ziel ist es, verletzten Frauen eine unauffällige Hilfe unter Umgehung männlicher Kontrollversuche zu bieten.

Ein beträchtlicher Schritt für das bürokratische Land ist die Ankündigung, dass Gewaltopfer kein Covid-Ausgeh-Formular vorzuweisen haben. Vielmehr können sie einen Uber-Beförderungsdienst rufen, auch wenn ihnen ihr Mann kein Geld gelassen hat; die Behörden tragen die Unkosten. Wohl noch wichtiger: Das Ministerium für Geschlechtergleichheit organisiert insgesamt 10.000 Hotelzimmer für verfolgte Frauen und ihre Kinder – und teilweise sogar für gewalttätige Männer.

Diese konkrete Reaktion ist auch eine Folge harter Kritik durch Frauen wie Caroline De Haas. Sie hatte das Schutzdispositiv der ersten Welle für verfolgte Frauen als völlig ungenügend bezeichnet. Für flankierende Maßnahmen brauche es "nicht eine Million, sondern eine Milliarde Euro", sagte sie; nur so lasse sich ein genügender Ausbau der Familiengerichte und ihrer Sozialstellen finanzieren. Bis heute bleiben in Frankreich fast 90 Prozent aller Gerichtsklagen ohne wirkliche Rechtsfolgen. Auch der Umstand, dass 41 Prozent der von ihrem Partner getöteten Frauen zuvor erfolglos Anzeige erstattet hatten, wirft ein Schlaglicht auf die fehlenden Mittel der Justiz.

Rückfallquote senken

Gleichheits-Ministerin Elisabeth Moreno will nun immerhin Therapieeinrichtungen für gewalttätige Männer subventionieren. Das soll ihre Rückfallquote halbieren. Auch sollen die Opfer schon im Krankenhaus Kontakt zu zuständigen Gerichten aufnehmen können. Das setzt eine Zusammenarbeit von Gesundheits- und Justizbehörden voraus, was in Frankreich viel Zeit in Anspruch nimmt. Noch ungeklärt ist zudem, wie weit Gynäkolog*innen und andere Mediziner*innen vom Arztgeheimnis entbunden werden sollen, um der Polizei häusliche Gewaltakte zu melden. Die Ärzteschaft ist vehement dagegen, nicht zuletzt, weil sie selbst Attacken gewalttätiger Männer befürchtet. (Stefan Brändle aus Paris, 15.11.2020)