Andreas Rettig: "Es hat einige Versuche gegeben, die Regel zu Fall zu bringen."

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Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #156 (Dezember 2020) – Seit 13. November im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: 50 +1

UMSTRITTENE MEHRHEIT

Die Debatte um 50+1 in Deutschland

https://ballesterer.at/2020/11/11/der-symbolwert/

LEX KONZERNKLUBS

Die Ausnahmen der Regel

REBELL OHNE GRUND

96-Präsident Martin Kind verlor Amt und Ansehen

Außerdem im neuen ballesterer:

SPIRIT IN SANKT PÖLTEN

Sportdirektor Georg Zellhofer im Interview

IMPERIUM IM HOSENTASCHENFORMAT

Flyeralarm und die Admira

DER KURZZEITSTUDENT

Luis Suarez in Perugia

MACHT DER GEWOHNHEIT

Streit um den Stadionnamen in Cadiz

https://ballesterer.at/2020/11/11/namhaftes-cadiz/

EINSAMER MANNSCHAFTSSPORT

Professionelle Hilfe bei mentaler Belastung

GRAZER GLAUBENSFRAGE

Ein Theaterstück um die Stadtrivalität

DATEN-HIGHJACK

Streit um die Sturm-App

https://ballesterer.at/2020/11/11/schwarzer-datendrang/

IM GROSSEN UND GANZEN

Ein Anstoß zu den Super-League-Drohungen

https://ballesterer.at/2020/11/11/im-grossen-und-ganzen/

SCHOTTISCHE SCHNAPPSCHÜSSE

Zwischen Swift Park und Ibrox Park

MEISTER IN UNTERWÄSCHE

Ein Auszug aus Francesco Tottis Autobiografie

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, Polen und der Slowakei

https://ballesterer.at/2020/11/11/grunwald-ruda-slaska-uks-szopienice/

Foto: Ariane Gramelspacher
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Andreas Rettig ist so alt wie die deutsche Bundesliga. Um die 50+1-Regel zu verstehen, sagt der langjährige Funktionär, müsse man dort, nämlich bei der Ligagründung 1963, anfangen. Damals spielten 16 Vereine, die ihren Mitgliedern gehörten, gegeneinander. 1998 kamen Kapitalgesellschaften hinzu, und die 50+1-Regel wurde als Schutz gegen zu viel Einfluss von Investoren eingeführt. Sie besagt, dass der Mutterverein immer eine Mehrheit von 50 und einer Stimme behalten muss.

Rettig hat die Bundesliga in den vergangenen 20 Jahren als Manager mehrerer Klubs und Geschäftsführer des Ligaverbands DFL begleitet – und für den Erhalt von 50+1 gekämpft. Das ballesterer-Gespräch findet im Millerntorstadion des FC Sankt Pauli statt. Dort arbeitet Rettig zwar seit September 2019 nicht mehr, die Begrüßung fällt dennoch herzlich aus. "Ich dachte, du hast eh noch einen Schlüssel", ruft der Mitarbeiter, der die Stadiontore öffnet.

ballesterer: Warum ist die 50+1-Regel Ihnen so wichtig?

Rettig: Sie legt fest, dass das Letztbestimmungsrecht beim Verein liegt. Das ist wichtig, weil ein Vereinsmitglied keine monetäre Rendite im Sinn hat. Seine Rendite ist emotional, es ist die Verbindung zum Verein. Investoren haben eine andere Sicht, sie wollen ihre Produkte bekannter machen, Geld verdienen oder ihr Image verbessern.

ballesterer: Sie haben als Manager beim SC Freiburg und beim FC Sankt Pauli in eingetragenen Vereinen, beim FC Augsburg und dem 1. FC Köln in Kapitalgesellschaften gearbeitet. Ist das ein Unterschied?

Rettig: Für mich nicht, aber das ist auch eine Frage der Herangehensweise. Als Manager will ich Strukturen schaffen, die funktionieren. Ich muss mich entbehrlich machen, statt mich über Herrschaftswissen zu definieren. Mein Antrieb war, die Haltung vorzuleben: "Das ist unser Klub, deiner und meiner." Ich sehe einen Fußballverein als Familienbetrieb, in dem man in Generationen denkt, nicht in Quartalen oder Saisonen. Die Mitgliederversammlung ist dabei als Korrektiv gut und wichtig. Ich habe davor immer Respekt gehabt. Wenn es sportlich nicht läuft, musst du dir dort einiges anhören, aber dem muss man sich stellen.

ballesterer: 2013 sind Sie Geschäftsführer der DFL geworden. In Ihre Amtszeit fällt der Aufstieg von RB Leipzig in die zweite Liga.

Rettig: Das waren sehr kontroverse Diskussionen. Der DFB, der denselben Wortlaut zu 50+1 in der Satzung hat wie die DFL, hat dem Klub zuvor die Lizenz für die dritte Liga ohne Auflagen erteilt. RB hat sich auf den Standpunkt gestellt: "Was wollt ihr überhaupt prüfen? Das ist schon genehmigt worden." Ich habe gesagt: "Wir sind ein eigener Verband, wir haben ein eigenes Prüfungssystem." Als für die Lizenzierung zuständiger Geschäftsführer habe ich RB die Lizenz in der ersten Instanz verweigert, weil aus meiner Sicht zu viele Umgehungstatbestände dabei waren.

ballesterer: Was meinen Sie damit?

Rettig: Das waren mehrere Punkte – angefangen beim Wappen, das wie das Logo der Marke aussieht. Für die Mitgliedschaft im Verein waren eine Aufnahmegebühr von 100 Euro und ein Jahresbeitrag von 800 Euro vorgesehen. Wer soll das bezahlen? Das war aus meiner Sicht ein Mitgliederverhinderungsbeitrag. Unser wichtigstes Argument war der closed shop. RB hat neun Vereinsmitglieder gehabt, die alle mit dem Konzern verbunden waren. Das widerspricht der 50+1-Regel. RB hat erwidert: "Für uns gilt 50+1 doch gar nicht, wir haben ja nicht ausgegliedert, wir sind ein eingetragener Verein." Auf die Idee, dass jemand den Verein von innen heraus okkupiert, ist bei der Einführung der Regel niemand gekommen. Es sind viele Schriftsätze hin- und hergegangen, dann haben wir in der zweiten Instanz wieder abgelehnt. Als der Fall beim Lizenzierungsausschuss gelandet ist, hat der meine Entscheidung einkassiert, einige Bedingungen diktiert und eine Lizenz erteilt.

"Auf die Idee, dass jemand den Verein von innen heraus okkupiert, ist bei der Einführung der Regel niemand gekommen."
Foto: Ariane Gramelspacher

ballesterer: Der Lizenzierungsausschuss ist mit Vertretern der Profiklubs besetzt. Warum haben sie die Entscheidung revidiert?

Rettig: Es war ein Abwägungsprozess, um sich auf einem rechtlich nicht eindeutigen Terrain nicht angreifbar zu machen. RB hat mit einer Schadensersatzklage gedroht. Das war aus ihrer Sicht auch logisch, schließlich war es keine zweifelsfreie Sache, sondern eine Auslegungsfrage. Ich habe es streng ausgelegt und die Haltung vertreten, dass diese Konstruktion dem Geist von 50+1 widerspricht. Ich kann aber auch die Entscheidung des Ausschusses nachvollziehen. Es wäre ein unsicherer Ausgang gewesen mit möglichen Folgen für die Tabelle, für Auf- und Abstieg.

ballesterer: In der Diskussion um 50+1 wird öfters mit Klagen gedroht, auch Martin Kind von Hannover 96 und Hasan Ismaik vom TSV 1860 München haben schon auf dieses Mittel zurückgegriffen.

Rettig: Ja, es hat einige Versuche gegeben, die Regel zu Fall zu bringen. Ismaik hat 2017 Beschwerde beim Kartellamt eingereicht, das bis heute jedoch kein Verfahren eingeleitet hat. Im Fall Kind hat das Schiedsgericht des DFB 2011 die Regel dem Grunde nach bestätigt und festgehalten, dass 50+1 die sozialen, historischen und kulturellen Wurzeln des Fußballs bewahrt. Das ist ein entscheidender Punkt.

ballesterer: Die rechtliche Unsicherheit wird aber immer wieder als Argument ins Feld geführt. Ist die DFL da nicht ständig in der Rolle der Getriebenen?

Rettig: Dazu mache ich einmal einen Sprung zu meiner nächsten beruflichen Tätigkeit, nämlich als Geschäftsführer des FC Sankt Pauli. Nachdem bei der DFL ein Prozess losgetreten worden ist, die Regel auf den Prüfstand zu stellen, haben wir im März 2018 bei der Mitgliederversammlung der Liga einen Antrag für ein Bekenntnis zu 50+1 gestellt. Wir wollten verhindern, dass man sich im Vorfeld schon in den Staub wirft, nur weil jemand mit einer Klage droht. Wir haben uns wochenlang vorbereitet und ein Dokument mit unserer Haltung an die anderen 35 Vereine verschickt.

ballesterer: Wie hat die ausgesehen?

Rettig: Wir haben argumentiert, dass es bereits eine hohe Rechtssicherheit gibt, 50+1 für die DFL aber nicht in erster Linie eine rechtliche Frage ist, sondern eine sportpolitische. Die Abstimmung sollte klären: "Wollen wir 50+1 oder nicht?" Das war die Botschaft. 18 der 34 anwesenden Klubs haben dafür gestimmt, vier dagegen, der Rest hat sich enthalten. Das war ein großer Erfolg, weil wir damit klargemacht haben, dass künftige Diskussionen unter der Prämisse des Erhalts von 50+1 geführt werden müssen.

"Mir geht es nicht um Gleichmacherei, Leistung muss honoriert werden. Aber welche Leistung meinen wir?"
Foto: Ariane Gramelspacher

ballesterer: Dafür sind Sie von Karl-Heinz Rummenigge heftig kritisiert worden, der FC Bayern war einer der Klubs, die gegen den Antrag gestimmt haben.

Rettig: In den letzten 20 Jahren hat sich die Verteilung der Gelder aus den Medienrechten immer mehr zugunsten der großen Klubs verschoben. Früher hat es einmal ein Verhältnis von eins zu eins gegeben, damals haben alle gleich viel bekommen. Heute stehen wir bei einem Verhältnis von fast eins zu vier. Wenn man die Einnahmen aus dem Europacup dazuzählt, bei eins zu acht. Der FC Bayern bekommt also achtmal so viel wie Aufsteiger Arminia Bielefeld. Das kann für den Wettbewerb nicht gesund sein. Deswegen kämpfe ich aus tiefster Überzeugung für eine fairere Verteilung.

ballesterer: Wie soll das gehen?

Rettig: Mir geht es nicht um Gleichmacherei, Leistung muss honoriert werden. Aber welche Leistung meinen wir? In der vergangenen Saison haben Hertha BSC und Union Berlin beide 41 Punkte geholt, Hertha war dann aufgrund der besseren Tordifferenz Zehnter. Aber sie haben dafür ein Vielfaches an Mitteln eingesetzt. Wir müssen zu einer vergleichbaren Währung kommen und fragen: Was zahlt jeder Klub, um einen Punkt zu erreichen? Ein solcher Verteilungsschlüssel würde die Qualität von Trainerteam und Management sichtbar machen. Wir müssen von der Idee wegkommen, dass es nur darum geht, immer mehr Geld heranzuschaffen. Wenn ich weiß, dass ich mit dem vierten Platz in die Champions League und an die große Kohle komme, gehe ich ein größeres Risiko ein – Schalke lässt grüßen. Nur wenn wir vernünftige Anreize schaffen, hört diese Hasardeurmentalität auf.

ballesterer: Gibt es dafür eine Mehrheit in der DFL?

Rettig: Der Boden ist langsam bereitet. Wir können nicht sagen: Ab morgen kriegen alle das Gleiche. Ich würde dafür plädieren, dass es ähnlich wie bei 50+1 einen Grundsatzbeschluss gibt, der auf die Integrität des Wettbewerbs abzielt. In den nächsten Jahren sollte man dann ein Verteilungsverhältnis von eins zu zwei anvisieren. Ich glaube, dass das perspektivisch mehrheitsfähig ist.

ballesterer: Unter dem Eindruck der Coronakrise gibt es jetzt wieder verstärkt Rufe nach der Abschaffung der 50+1-Regel. Ansonsten könne der deutsche Fußball unmöglich mithalten.

Rettig: Wir müssen uns die Grundsatzfrage stellen, ob wir eine vermeintliche internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen oder dem Fußball eine gesellschaftliche Verantwortung zumessen wollen. Ein Verein, der wirtschaftlich vernünftig arbeitet, wird den Wettstreit mit Oligarchen und Staatsfonds nicht gewinnen können. Neymar wird auch um 250 Millionen Euro nicht zum FC Bayern wechseln, die das sogar bezahlen könnten. Die Kataris werden dann einfach 300 bieten. Und in der Bundesliga wird Bayern bei einer Öffnung für Investoren auch nicht warten, bis der VfB Stuttgart aufgeholt hat, sondern sie werden Anteile verkaufen – und zwar um mehr Geld als alle anderen. Der frühere Eintracht-Frankfurt-Vorstand Heribert Bruchhagen hat dazu einmal gesagt: Die Flut hebt alle Boote. Das Niveau steigt, aber die Abstände werden bleiben.

ballesterer: Aber einfach nur "50+1 bleibt" zu fordern, ist doch ähnlich naiv. Die Regel hat das finanzielle Gefälle und die fehlende Spannung in der Meisterschaft nicht verhindert.

Rettig: Wir haben aber weiterhin die höchsten Zuschauerzahlen, sozial verträgliche Ticketpreise und eine ganz andere emotionale Bindung der Fans. Warum kommen Leute aus England und schauen sich Spiele an? Weil das Letztbestimmungsrecht beim Verein mit seinen tausenden Mitgliedern liegt. Ich habe dort zwar nur eine Stimme, aber das ist mein Verein. Deswegen ist 50+1 das letzte Bollwerk gegen die Kommerzialisierung.

ballesterer: Was passiert, wenn es fällt?

Rettig: Wenn ich diese emotionale Verbindung zum Verein kappe, wird der Fokus auf der Profitorientierung liegen. Warum sollte ein Investor sonst Geld hineinstecken? Er erwartet sich einen Return on Investment – Geld, Werbung, Eitelkeit oder Aufmerksamkeit. Darunter würde aber die gesellschaftliche Akzeptanz des Profifußballs leiden. Das merken wir schon jetzt. Eine Branche, die mit der Öffentlichkeit und durch die Öffentlichkeit Geld verdient, muss sich zu ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bekennen. Sonst wird sie auch nichts mehr verdienen. (13.11.2020, Interview: Nicole Selmer)