Hans-Peter Hutter ist stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien.

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STANDARD: Alle Zeichen stehen auf Lockdown, weil die Fallzahlen weiter steigen. Wie sehen Sie das als Experte für Public Health?

Hutter: Sehr kritisch. Aus den Studien sehen wir, dass Kinder keine relevante Quelle für Ausbrüche sind, sie sind auch kein Ausgangspunkt für Infektionsketten.

STANDARD: Das sehen andere ganz anders. Warum diese Kontroverse?

Hutter: Es geht nicht darum, dass sich Kinder nicht mit dem Coronavirus anstecken können, das tun sie natürlich schon. Nur die Fähigkeit, andere anzustecken, ist einfach geringer. Deshalb bin ich ganz klar gegen die Schulschließungen. Aus Sicht der allgemeinen Gesundheit der Bevölkerung, und das ist mein Fokus, ist das epidemiologisch nicht gerechtfertigt und aus psychosozialer Sicht falsch.

STANDARD: Man könnte sich denken: Das alles dauert ja nur ein paar Wochen. Wo ist das Problem?

Hutter: Es kommt dabei aber auf die Lebenswirklichkeit der Menschen an. In einer Wohnung ohne eigenen Arbeitsbereich irgendwo am Küchentisch zu arbeiten und seine Aufgaben gut zu erledigen, gleichzeitig das Homeschooling der Kinder zu überwachen und sie danach zu betreuen ist einfach nicht möglich und verursacht chronischen Stress. Es ist ein Faktum, dass chronischer Stress, der derzeit viele Menschen betrifft, gesundheitliche Langzeitfolgen haben wird.

STANDARD: Auch Sie beobachten die Zahlen sehr genau. Worauf richten Sie derzeit Ihr Augenmerk?

Hutter: Wir sehen gerade an den aktuellen Zahlen, dass sich die Dynamik verlangsamt. Es geht um den Sieben-Tage-Verdoppelungswert. Dieser Kennwert charakterisiert den Anstieg der Anzahl von Infizierten und gibt an, in wie vielen Tagen eine Verdoppelung der Fallzahl zu erwarten ist. Daraus lassen sich Prognosen erstellen. Wenn der Sieben-Tage-Verdoppelungswert steigt, was die aktuellen Zahlen zeigen, ist das ein gutes Zeichen, weil es bedeutet, dass der Anstieg an Infizierten abgebremst wurde und – ergo – die Maßnahmen greifen.

STANDARD: Was bedeutet das für die Infektionszahlen, auf die das ganze Land derzeit gespannt wartet?

Hutter: Die Infektionszahlen werden in den nächsten Tagen trotzdem noch steigen und auch die Hospitalisierungen, doch nächste Woche könnten wir dieses berühmte Plateau erreicht haben, und dann werden die Fallzahlen sinken.

STANDARD: Es geht also um den Faktor Zeit?

Hutter: Genau. 14 Tage sind seit dem Lockdown noch nicht vergangen. Die Schulschließungen führen ja auch dazu, dass sich die Infektionsketten verlagern. Für viele Familien sind Oma und Opa die einzige Alternative für die Betreuung der Kinder, die nicht zur Schule gehen. Es gibt viele Berufe, die nicht aus dem Homeoffice gemacht werden, zum Beispiel sämtliche medizinische Berufe, die wir derzeit dringend brauchen. Schulschließungen sind wirklich die allerletzte Maßnahme.

STANDARD: Ihr Vorschlag?

Hutter: Um den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten, sollten Kinder in den Schulen Mund-Nasen-Schutz tragen und die Hygieneregeln einhalten. Und die Lehrer mit FFP2-Masken auszustatten ist auch eine gute Idee. Man sollte auch die Unterrichtszeiten staffeln. Auch die Schülerzahlen pro Klasse kann man herabsetzen und dafür den Unterricht in den Nachmittag ausdehnen. Es ist längst nicht alles ausgeschöpft, was man zum Infektionsschutz tun kann. Und das Contact-Tracing massiv verstärken. Rasches Testen im Verdachtsfall und Schnelltests gezielt in Bereichen einsetzen, wo viele Menschen zusammenkommen, etwa in großen Betrieben.

STANDARD: Wie sind die Erfahrungen aus anderen Ländern?

Hutter: Unterschiedlich. Jedes Land hat sehr spezifische Eigenheiten, und deshalb ist es ein Vergleich mit Österreich schwierig. In China und Südkorea sind die Schulen offen. Dort ist aber das Tragen von Masken auch viel selbstverständlicher als hier. Es geht auch um den sozialen Kontext. Wenn Menschen eng zusammenleben, ist die Situation anders. Wir in Österreich können aus meiner Überzeugung die Schulen offen halten.

STANDARD: Wer ist dagegen?

Hutter: Ein Lockdown ist die sicherste und simpelste Maßnahme, um Infektionszahlen zu senken. Da muss man weder Mathematiker noch Epidemiologe sein. Wenn es um das Allgemeinwohl geht, sieht es aber anders aus. Hier braucht es dingend eine differenzierte Vorgangsweise, die auch negative Auswirkungen berücksichtigt. Wir sehen ja jetzt schon die unmittelbaren Folgen auf psychischer Ebene, die durch den chronischen Stress entstehen. Abgesehen davon wird auch die medizinische Versorgung besonders chronisch Kranker schwieriger oder sogar unmöglich, wenn Ambulanzen schließen müssen. Dass Mathematiker und Physiker in Eigenregie einschneidende Maßnahmen ableiten, ist höchst seltsam, denn es fehlt ihnen komplett die medizinische Gesamtsicht auf die breite Bevölkerung, die fließt in ihre Betrachtung nicht ein.

STANDARD: Ihr Vorschlag?

Hutter: Üblich wäre eine interdisziplinäre Entscheidungsfindung, die Public-Health-Perspektive muss in Entscheidungen wie die Verhängung eines kompletten Lockdowns einfließen. Zudem könnten solche Maßnahmen auch lokal unterschiedlich getroffen werden, etwa dort, wo sich keine Trends ablesen lassen, dass die Dynamik sich einbremst. Und wir müssen auch das Contact-Tracing unbedingt wieder einführen bzw. effizient machen. Das ist die wichtigste Säule in der Pandemiebekämpfung, denn wenn man nicht weiß, wer infiziert ist und damit die Infektion weitergeben kann, lassen sich die Infektionsketten nicht unter Kontrolle bringen. (Karin Pollack, 14.11.2020)