Das Punk-Riff und der Torschuss: Beide führen ohne Umwege zum Ziel. Campino, unlängst im "Aktuellen Sportstudio" beim Torwandschießen.

Foto: imago images/Martin Hoffmann

Mit seinem pointenreichen Buch "Hope Street" (Piper) hat Campino, Sänger der bundesdeutschen Toten Hosen, eine verkappte Autobiografie vorgelegt: Ein kleiner Bub aus Düsseldorf-Mettmann verliebt sich unsterblich in den Liverpool FC. Und reist seinem Verein noch im hohen Mannesalter in unerschütterlicher Treue hinterher. Passenderweise legen die Toten Hosen jetzt auch noch ein Album mit Merseyside-Schunklern vor: "Mersey Beat!". Ein Gespräch über das runde Leder und die Macht des Krachs.

STANDARD: Die wichtigste Frage zu Beginn: Wird der Liverpool FC seinen heuer im Sommer (nach 30 Jahren Pause) errungenen Meistertitel in der Premiere League erfolgreich verteidigen?

Campino: Um es mit LFC-Trainer Jürgen Klopps Worten zu sagen: "Wir werden den Titel nicht verteidigen, wir werden ihn angreifen." Es geht jetzt darum, mental nicht in die Defensive zu geraten. "Verteidigen" klingt schon einmal defensiv. Es gilt, die Mannschaft "heiß" zu halten, sie zu motivieren. Ich habe Jürgen jetzt länger nicht gesehen. Aber eine meiner ersten Fragen an ihn würde lauten: Wäre es für deine Jungs nicht Motivation genug zu sagen, wir wollen die nächste Meisterfeier gemeinsam mit den Menschen in Liverpools Straßen zelebrieren? Vielleicht ist das 2021 endlich wieder möglich.

STANDARD: Würden Sie einen leidenschaftlichen Manchester-City-Fan als Gegenüber akzeptieren?

Campino: Uns trennt gar nicht viel. Alle Fans in Deutschland oder Österreich, die sich der englischen Liga verschrieben haben, teilen einen gemeinsamen Humor. Sie suchen etwas Ähnliches da drüben, die Pubs in den Nebenstraßen, das Flair, die Menschen, die sie dort antreffen. Wir suchen ein Stück weit diese Welten, deshalb reisen wir nach Wolverhampton, Newcastle oder Birmingham. Es ist eine Art Fußballromantik, der wir anhängen.

STANDARD: Worin besteht das Naheverhältnis, das Fußball und Rock’n’Roll miteinander verbindet? Sie haben britische Wurzeln. Konnten Sie mit diesem Doppelpaket aus Rock und Soccer leichter der bundesrepublikanischen Wirklichkeit entfliehen?

Campino: Es hat mir jedenfalls geholfen, mich zu definieren, schon als Kind. Zum einen gab es diesen sprichwörtlichen Sportsgeist, den man immer zitiert hat, auch wenn er heute ins Reich der Legende gehört. Man hat auch immer unterstellt, dass Fairness eine Erfindung der britischen Sportler sei. Und an der Rockmusik imponierte mir der Stellenwert, den sie in Großbritannien genoss. So etwas wie der Band-Streit zwischen Blur und Oasis war in den 1990ern eine Meldung in den Abendnachrichten wert. Das hätte es in Deutschland niemals gegeben.

STANDARD: Zwischen den Toten Hosen und den Ärzten gab es immer Rivalität.

Campino: Doch nicht in den Nachrichten! Alles Popkulturelle war von jeher britisch, und die Rolle des Fußballspielers als Popstar begann mit schillernden Figuren wie George Best und Kevin Keegan. Das Fantum, die Vereinswahl mit dem Herzen, all das wird von den Briten deutlicher ausgelebt. Eine Sendung wie "Top of the Pops" dominierte die Alltagskultur. Diese Zusammengehörigkeit mag in meinem Unterbewusstsein eine Rolle gespielt haben. Deshalb war auch meine Sympathie für die englischen Bands immer größer als die zu amerikanischen. Das hatte auch damit zu tun, dass Amerika in den 1970ern physisch sehr weit weg war.

STANDARD: Vermiest Ihnen der Oligarchen- und Scheichtumsfußball die Tradition?

Campino: Ganz klar, die Premier League ist im großen Stil Entertainment geworden. Für viele Leute geht es nur mehr um Gewinne. Für einen Fußballromantiker ist das nicht leicht zu ertragen. Andererseits, und damit tröste ich mich: Du kannst nur elf Spieler auf den Platz stellen. Es ist nicht möglich, dass elf Spieler, die jeweils hundert Millionen kosten, automatisch immer elf Spieler besiegen, die jeweils nur vierzig Millionen kosten. Irgendwann klaffen Geld und Fähigkeiten eklatant auseinander. Aber du kannst noch immer ein Team mit guten Spielern und einer feinen Chemie haben, und dieses hebelt dann das favorisierte Team mit den fantastischen Spielern aus. Das sehen wir in England doch unentwegt: Länder wie Katar pumpen Unmengen Geld in ihre Teams. Trotzdem kann auch ein finanziell schwächeres Premier-League-Team an einem guten Tag den Favoriten stürzen.

STANDARD: Und in Deutschland?

Campino: Dort ist alles fein geregelt, und der FC Bayern München gewinnt acht Mal hintereinander die Meisterschaft. Für neutrale Zuschauer nicht unbedingt das A und O. Man muss einen weiteren Punkt beachten: In Großbritannien kam es aufgrund der katastrophalen Fan-Verhältnisse in den 70er- und 80er-Jahen zu einem echten Strukturwandel. Erst danach wurden die Stadien in "All-Seater" verwandelt: aus Vernunftgründen. Liga-Fußball ist ein Familiensport geworden. In den 70ern bist du immer Gefahr gelaufen, als Unbeteiligter in eine Schlägerei hineinzugeraten. Der Ruf der Briten war dermaßen kaputt, dass sie im Ausland von den Fans der Gegenseite regelrecht geschmäht und herausgefordert wurden: "Ihr wollt die Größten sein? Dann messt euch mit uns!"

STANDARD: Ist das Punk: das Ethos des Schwächeren, der Goliath besiegt? "Du hast keine Chance, also nütze sie!"

Campino: Das ist überhaupt eine gute Lebenseinstellung. Keine Ahnung, ob das Punk ist, aber auf jeden Fall ein Rezept, das ich und mein Umfeld für uns reklamieren würden. Wir, Die Toten Hosen, sind musikalisch vielleicht nicht die Besten, aber mit viel Energie können wir das kompensieren! Wir haben nur drei Akkorde, trotzdem legen wir los. Dieses Underdog-Verhalten macht die Romantik aus, der jemand wie ich hinterherjagt. Dass die Chancen 1 zu 100 stehen, dass ein Verein aus einer schier ausweglosen Situation doch noch herauskommt und triumphiert – das ist die Sensation, vor der wir den Hut ziehen.

STANDARD: Auch Pop lebt von Parteilichkeit: Bist du Beatles, bin ich Stones. Definieren wir uns nicht alle dadurch? Ärzte vs. Hosen?

Campino: Bei der heutigen Generation weiß ich nicht, ob die sich über solche Zuschreibungen definiert. Musik hat an Durchschlagskraft verloren. Warst du für Sweet oder Slade, beschrieb dich das als Typ. Der Junge, der ein Black-Sabbath-T-Shirt trug – das war ein Statement. Alle wussten, was das für ein Kerl ist.

STANDARD: Musik als Lebensform?

Campino: Ich war neun Jahre alt, als 1971 das "Fireball"-Album von Deep Purple herauskam. Danach war ich kompletter Deep-Purple-Fan und habe auch in der "Öffentlichkeit" nichts anderes gehört. Anderer Musik habe ich nur heimlich gelauscht. In der Spielhalle, wo eine Musicbox stand, habe ich heimlich die Lieder von Slade gedrückt. Durfte man offiziell nicht, weil das Teenager-Musik war, Trash. Dabei war ich zu der Zeit selbst erst elf oder zwölf. Dagegen gab es dann The Doors und Traffic, Bands, die meine älteren Geschwister gehört haben. Das galt als "wertiger". Je nachdem, was man auf dem T-Shirt hatte, so war die Attitüde. Wenn man Musik von Jimi Hendrix oder Bob Dylan gehört hat, ging es auch um die Person hinter dem Lied. Heute reicht es den Leuten zumeist schon, einen halbwegs guten Song zu hören.

STANDARD: Ein möglicher Grund?

Campino: Das wahnsinnig gesteigerte Freizeitangebot, die Explosion an Möglichkeiten. Deshalb kann Musik heute nicht mehr dieselbe Rolle spielen.

STANDARD: Die Einheit "Album" hat im Pop einigermaßen ausgedient. Das Match dauert 90 Minuten, und daran ändert keine Reform etwas.

Campino: Mir hat die Gestaltung eines Tote-Hosen-Covers zu Vinylzeiten bis ins letzte Detail Spaß gemacht. Wir haben das mit Liebe designt. Die kleinen Kommentare, die wir in den Ecken der Album-Cover versteckt haben. Diese Möglichkeiten wurde schon mit Einführung der Compact Disc geschrumpft. Die Hörgewohnheiten sind heutzutage komplett anders, wenn ein Track nach zehn Sekunden nicht greift, wird geskippt. Die Dramaturgie eines Albums wird nur noch von den Die-hard-Fans nachvollzogen. Das ist etwas, was mich traurig macht. Aber die Toten Hosen und ich – wir wollen darauf nicht verzichten. (Ronald Pohl, 14.11.2020)