Chor: Mach’ dem Vater keine Sorgen / mach’ der Mutter keinen Schmerz / denn wer weiß / vielleicht bricht der Tod / ihr liebes Herz! / Mach’ dem Vater keine Sorgen / mach’ der Mutter keinen Schmerz / denn wer weiß / vielleicht bricht der Tod / ihr liebes Herz!

Berührungsängste hindern einen manchmal jahrelang an Schritten ab, die man einfach machen müsste, manchmal hindern sie einen ein Leben lang. Lesen Sie diese Geschichte, und dann machen Sie damit, was Sie wollen!

Zwei Mädchen im Alter von zwölf und zehn Jahren. Zwei Schwestern. Die eine schon ein wenig entwickelt, die andere noch unbedarft. Beide naiv. Irgendwo auf dem Land in den österreichischen Achtzigern. Jump-Cut: ein Zuckerbäcker aus Wien. 1986. In seiner Ledertasche finden sich Spielsachen, Süßigkeiten, Zauberkästen, Schleckereien, Verblüffungen einfachster Art, mit denen er Kinder fangen und verzaubern kann. In seiner Ledertasche finden sich auch Geschichten, die er erzählt, und es finden sich auch Fotos darin.

Irgendwann wurde der "väterliche Freund" aus Wien dann doch mit Hausverbot belegt. Eintrag ins Poesiealbum der älteren Schwester.
Foto: Drumbl

Der Zuckerbäcker aus Wien besucht die beiden Mädchen immer wieder einmal, fährt mit dem Zug nach Kärnten, wo die Eltern der beiden Schwestern ein Gasthaus haben. Als Gast, der Kinder gern hat, baut er eine Beziehung zu den Mädchen auf, die für die gestressten Eltern zunächst unauffällig ist. Nur die Großmutter findet keine Sympathien für den Mann, sie spricht als Einzige abfällig über ihn.

Der Zuckerbäcker aus Wien schenkt den Kindern Schleckzeug, zeigt ihnen Spiele, die sie nicht kennen, und er erzählt von seinem Sohn, einem jungen Journalisten, der fürs Fernsehen arbeitet. Er erzählt von ihm, dem Sohn, dem Fernsehreporter. Das Fernsehen hat in den Achtzigern einen ganz anderen, bedeutenderen Stellenwert als heutzutage, und mit dieser Verwandtschaftsgeschichte erscheint der Zuckerbäcker aus Wien ein weiteres Mal in einem viel interessanteren, aufregenderen Licht.

Grausame Verbrechen

Er gibt mit seinem Sohn an, zeigt Bilder, die er angeblich von seinem Sohn hat, Bilder aus Italien, Bilder vom Papst mit Geschichten aus aller Welt. Der Zuckerbäcker aus Wien baut seine Beziehung zu den Mädchen immer weiter auf, so weit, bis die größere der beiden Schwestern wortwörtlich in seine ausgestreckten Arme läuft, in die Arme des Zuckerbäckers aus Wien, der Kinder gern hat.

In der Schule lernen die Mädchen im Sachunterricht und in Biologie über Pflanzen und Schnecken und über andere Tiere, sie lernen aber nichts über alte freundliche Männer, die Kinder gern haben. In der Schule lernen die Mädchen nichts über Missbrauch und Betrug, aber zu Hause dürfen sie freitags Aktenzeichen XY im Farbfernsehen schauen. Da hören sie von Kindern, die entführt wurden, die missbraucht wurden, die getötet wurden, im Fernsehen werden sie mit Verbrechen grausamster Art konfrontiert.

In der Schule lernen sie nichts über solche Verbrechen grausamster Art, aber sie lernen, höflich zu sein, zugänglich zu sein, Bitte und Danke und Grüß Gott zu sagen und auch einmal den Mund zu halten, wenn es die Erwachsenen wollen.

Vierunddreißig Jahre später: Vom Zuckerbäcker aus Wien, der Kinder gern hatte, ist, vierunddreißig Jahre später, nichts mehr geblieben als ein Lügenkonstrukt der Irreführung, der Verblendung und des Missbrauchs in doppelter Hinsicht.

Der Zuckerbäcker aus Wien, der Kinder gern hatte, hatte nicht nur der größeren der beiden Schwestern vierunddreißig Jahre vorher auf einer Sitzbank abseits eines weitläufigen Feldes seine alten dicken Finger, wie er sich ausdrückte: in die Scheide! stecken und womöglich noch mehr von sich irgendwo hineinstecken wollen, während die jüngere Schwester Augenzeugin dieses Vorfalls geworden war, obwohl der Zuckerbäcker aus Wien, der Kinder gern hatte, sie weggeschickt hatte.

Autoritätsverhältnis

Sie war trotzdem dageblieben und hat mit ihrer ungehorsamen Anwesenheit den Zuckerbäcker aus Wien an seinen Absichten, mit der größeren Schwester zu tun, was er verheißen hatte, gehindert. Zusammen mit der Schwester ist sie nach Hause gelaufen, den üblen Geruch eines Übergriffs, den sie mit diesem Alter und in dieser Zeit der Achtziger noch nicht begreifen konnte, im Nacken und auf den Sohlen.

Der Zuckerbäcker aus Wien, der Kinder gern hatte, hatte sein Autoritätsverhältnis zu den Kindern vorsätzlich missbraucht, außerdem hatte er den Namen und die Person seines vermeintlichen Sohnes, der gar nicht sein Sohn war, auf groteske Weise benutzt und missbraucht. Ein doppelter Missbrauch in einer doppelten Spiegelgeschichte.

Vom Zuckerbäcker aus Wien, der Kinder gern hatte, existieren zudem noch Fotos von den beiden Mädchen in seltsamen Posen. Diese Fotos, die der Zuckerbäcker aus Wien bei einem Spaziergang mit den Mädchen gemacht hatte, befinden sich mit August 1986 datiert im Fotoalbum der jüngeren Schwester.

Der Vater der beiden Mädchen hatte sie dort sorgfältig eingeklebt, von den Beziehungen und Machenschaften des Zuckerbäckers zu seinen Töchtern nichts wissend. Dort kleben die Fotos heute noch, denn niemand hat sie entfernt, und niemand hat mehr, nachdem der Zuckerbäcker aus Wien im Gasthaus der Eltern der beiden Schwestern Hausverbot bekommen hatte, weil er Kinder, wie sich herausstellte, zu gern hatte, über den Zuckerbäcker aus Wien gesprochen, weil in den österreichischen Achtzigern über solche Vorfälle nicht immer gesprochen wurde und weil Aufarbeitungen von Geschichten im Österreich der Achtziger nicht immer funktioniert haben.

Darüber hinaus gibt es auch noch den Eintrag im Poesiealbum meiner großen Schwester: Zur Erinnerung an deinen väterlichen Freund.

Chor: Mach’ dem Vater keine Sorgen / mach’ der Mutter keinen Schmerz / denn wer weiß / vielleicht bricht der Tod / ihr liebes Herz! / Mach’ dem Vater keine Sorgen / mach’ der Mutter keinen Schmerz / denn wer weiß / vielleicht bricht der Tod / ihr liebes Herz!

Heute denke ich nicht mehr, dass man eine Farbe für diese Geschichte finden müsste, die so scheu wie die Morgenröte und einen Himmel weit entfernt ist. Heute weiß ich, dass auch diese Geschichte ihre Farbe gefunden hat, an der sie eines Tages zerreißen wird. (Andrea Drumbl, ALBUM 14.11.2020)