Als Oskar Kokoschka in den 1930er-Jahren in Prag den tschechischen Staatspräsidenten Tomáš Masaryk porträtierte, stellten sie fest, dass sie beide von Johann Amos Comenius, dem wohl größten europäischen Pädagogen, fasziniert waren. Die Begeisterung Kokoschkas für Jan Amos Komenský (die tschechische Version seines Namens) ging so weit, dass er ihn in das Masaryk-Porträt aufnahm und es gleichsam zu einem Doppelporträt machte; er schrieb außerdem ein Theaterstück, in dem er höchst einfühlsam das unstete und mühsame Leben von Comenius in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges darstellte.

Wie ein moderner PR-Mann versah Comenius seine Botschaften mit griffigen Formeln.
Foto: Imago

Es war eine brillante Idee der Europäischen Union, eines ihrer pädagogischen Mobilitätsprogramme nach Comenius zu benennen, wenngleich dessen Aufenthalte in Deutschland, Ungarn, Polen, Schweden, England und den Niederlanden nicht eine selbstgewählte "Mobilität", sondern vielmehr eine wiederholte Flucht vor religiöser Intoleranz und gewalttätigen Fürsten waren.

Comenius wurde am 28. März 1592 in Nivnice, Mähren, in eine protestantische Familie geboren, die der freikirchlichen, urchristlich inspirierten Gemeinschaft der Böhmischen Brüder angehörte, deren Bischof er schließlich wurde. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Prerov, wo er eine solide humanistische Grundbildung und eine hervorragende Kenntnis des Lateinischen erwarb, ging er zum Studium der Philosophie und Theologie zuerst an die "Hohe Schule" im hessischen Herborn und sodann an die Universität Heidelberg, von wo er anschließend in seine böhmische Heimat zurückkehrte und Pfarrer und Lehrer wurde.

Lebenslange Migration

Seine lebenslange Migration begann 1620 nach dem Sieg der Katholischen Liga über die protestantischen böhmischen Stände. Comenius musste sich zuerst bei Glaubensbrüdern in Böhmen, Sachsen, Berlin und Holland verstecken, ehe er wie viele protestantische Flüchtlinge im polnischen Lissa eine neue, allerdings nur temporäre, Heimat fand.

Hier legte Comenius den Grundstein für seinen Status als "Lehrmeister Europas". Einerseits wurde er als Direktor des Gymnasiums mit allen Problemen des schulischen Alltags vertraut, andererseits hatte er die Muße, seine theologischen, philosophischen und pädagogischen Ideen zu einer umfassenden Weisheitslehre ("Pansophie") zusammenzufassen, deren Grundprinzipien Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit nicht nur Kokoschka und Masaryk, sondern darüber hinaus zahlreiche Denker, darunter Leibniz und Albert Einstein, beeindruckten.

Mit seinen Publikationen erwarb sich Comenius den Ruf eines Universalgelehrten, der sich mit René Descartes traf, für den sich Kardinal Richelieu interessierte, der als "Bildungsberater" nach England berufen und vom schwedischen Kanzler Oxenstierna eingeladen wurde, moderne Schulbücher zu entwickeln. Während eines vierjährigen Aufenthalts (1650–1654) im ungarischen Sarospatak hatte Comenius Zeit und Gelegenheit, seine Vorstellungen von Schulreform zumindest ansatzweise umzusetzen, seine Didaktik weiterzuentwickeln und einige seiner populärsten Schulbücher zu schreiben. Von Ungarn nach Lissa zurückgekehrt musste er abermals fliehen; er verbrachte seinen Lebensabend in Amsterdam, wo er vor 350 Jahren am 15. November 1670 starb.

Als Intellektueller des 17. Jahrhunderts verfasste Comenius seine Bücher auf Latein, der damaligen Lingua franca der Wissenschaft, was ihre enorme Verbreitung und Lektüre in ganz Europa ermöglichte. Aus seinem riesigen Œuvre stechen zwei Werke in besonderer Weise hervor: sein theoretisch-pädagogisches Hauptwerk Didactica magna sowie Orbispictus, jahrhundertelang "das" Schulbuch schlechthin.

Bildung als Notwendigkeit

Wie viele große Geister war Comenius seiner Zeit weit voraus. Er gilt zu Recht als Urvater der modernen Pädagogik, wenngleich die Realisierung seiner Visionen und Forderungen bis in die Gegenwart an gesellschaftlicher Ungleichheit, Schulbürokratie, Segregation und Ausgrenzung, unzureichender Genderfairness und an didaktischer Bequemlichkeit bis heute scheitern. Vieles von dem, was Reformpädagoginnen und -pädagogen des frühen 20. Jahrhunderts wie John Dewey, Maria Montessori, Helen Parkhurst und Rudolf Steiner zugeschrieben wird, etwa "learning by doing", Pädagogik "vom Kinde aus" oder Lernen ohne Zwang und Leistungsdruck, entstammt dem progressiven Erbe von Comenius.

Lange bevor Jacques Delors 1996 mit seinem Bildungsbericht für die Unesco "Lebenslanges Lernen" propagierte und ebenso lange bevor die OECD begann, sich mit ihrem Projekt "Starting strong" der frühkindlichen Bildung und Erziehung zuzuwenden, war Comenius von der Notwendigkeit der Bildung "von der Wiege bis zum Grabe" überzeugt. Sein Informatorium der Mutterschul ist das erste Handbuch für die häusliche Bildung von Kindern in den ersten sechs Lebensjahren durch ihre Mütter.

Bedenkt man die Zwänge und Konventionen der ständischen Gesellschaft, in der Comenius lebte, war sein Schulreformprogramm revolutionär. Wie ein moderner PR-Mann versah er seine Botschaften mit griffigen Formeln, deren berühmteste "Omnes omnia omnino" ist, der Anspruch, "alle alles allumfassend" zu lehren. "Omnes" bedeutet eine einheitliche Pflichtschule für Knaben und Mädchen "aller Stände" mit der Mutter- bzw. Landessprache als Unterrichtssprache. Comenius ist der Urahn der Gesamtschulidee. Erst daran anschließend sollen sich die Bildungsgänge in praktische muttersprachliche und akademische lateinische differenzieren. "Omnia" könnte man mit umfassender Allgemeinbildung übersetzen, und "omnino" als das vielfältige, selbsttätige Lernen mit allen Sinnen.

Der "Bestseller" von Comenius war sein Schulbuch Orbis pictus. Niemand Geringerer als Johann Wolfgang Goethe bezeichnete es als das beste Kinderbuch seiner Zeit, das bis ins 19. Jahrhundert mehr als 200 Auflagen erfuhr. Insbesondere die zweisprachige, lateinisch-deutsche Version dieser illustrierten Enzyklopädie für Kinder war außerordentlich populär.

Reizvolles Experiment

Orbis pictus präsentiert im wahrsten Sinn des Wortes "Gott und die Welt". Das thematische Spektrum der Beiträge umfasst alle erdenklichen konkreten und abstrakten Phänomene und reicht vom Himmel über die Erde, die Berufe, die Tugenden, die Religionen, die Kriegführung bis hin zur Tier- und Pflanzenwelt, wobei jeweils veranschaulichende Holzschnitte erklärenden Textkolumnen gegenübergestellt werden. Wer mit "Fliegend Ungeziefer" (Insecta volantia) oder "Des Monds Gestalten" (Phases lunae) sein Latein auffrischen möchte, findet auch heute noch im Orbis pictus eine vergnügliche Gelegenheit dazu.

Kleiner persönlicher Exkurs: Als ich vor Jahren im Dorotheum ein schönes altes Exemplar des Orbis pictus ersteigerte, musste ich feststellen, dass etliche der Holzschnitte darin offensichtlich von Kinderhand mit Buntstiften bemalt waren. Mir war als Kind der Nachkriegszeit beigebracht worden, dass Bücher wie Reliquien zu behandeln und vor jeder "Verunstaltung" zu bewahren sind. Big mistake. Statt mich zu ärgern, hätte ich gleich das Vorwort lesen sollen, in dem Comenius Kindern nicht bloß erlaubt, sondern sie geradezu auffordert, die Holzschnitte nachzuziehen und anzumalen, damit sie, neudeutsch gesprochen, ihre Feinmotorik schulen, sich in Sorgfalt üben und ein Gefühl für Gestalt und Proportionen bekommen.

Es wäre ein reizvolles Gedankenexperiment, sich zu fragen, welche Position Comenius innehaben könnte, wenn er mit seiner damaligen internationalen Reputation heute leben würde.

Einmal abgesehen vom naheliegenden Amt eines evangelischen Bischofs in einer Universitätsstadt wie Uppsala, Berlin oder York: vielleicht Generaldirektor der Unesco (die als eine ihrer höchsten Auszeichnungen die Comenius-Medaille verleiht)? Leiter der Bildungsdirektion der OECD, des zurzeit mächtigsten internationalen Thinktanks in Sachen Schulreform und Bildungsforschung? Chef der Schulbuchproduktion des Verlagsgiganten McGraw-Hill Education? Rektor einer Universität? Die Einladung, die Präsidentschaft der Harvard University zu übernehmen, hat Comenius seinerzeit allerdings dankend abgelehnt, aber immerhin ist seine "Heimatuniversität" in Bratislava nach ihm benannt. (Karl Heinz Gruber, ALBUM 14.11.2020)