Unter dem beunruhigenden Titel Österreich bleibt Österreich pries der Leitartikler des "Kurier" am Sonntag den fabelhaften Text, den der Schriftsteller Michael Köhlmeier für den "Kurier" verfasst hat. Dem Blatt ging es dabei nicht nur um eine redaktionelle Auffrischung, sondern auch um die Frage: Wie geht ein Denker mit einer Schreckens-Tat wie dem Terroranschlag von Wien um?

Pränatale Chance ungenutzt

Es haben sich in den letzten Tagen Denker unterschiedlicher Qualität mit dieser Tat auseinandergesetzt, einer davon war Michael Jeannée, der in der "Krone" nach Betrachtung eines Videos, das den Mörder in Aktion zeigt, zu dem Schluss kam, der Schütze war nie ein orientierungsloser Teenager oder dummer Junge. Er war ein kranker Mörder von Geburt an. Ein auswegloses Schicksal gewissermaßen, das die Frage nach der Schuldfähigkeit allerdings nicht in dem Sinn beantwortet, in der Jeannée sie gestellt wissen wollte. Nur im Mutterleib hätte er vielleicht noch die Gelegenheit gehabt, seinem Leben eine andere Wende zu geben, ließ diese pränatale Chance aber ungenutzt.

"Volkstod"

Tiefer ins Grundsätzliche geht da diese Woche "Zur Zeit", wo der Terroranschlag als Anzeichen von bevorstehendem Volkstod interpretiert, die Schuld daran aber nicht einem kranken Mörder von Geburt an zugeschoben, sondern auf Eigenverantwortung gesetzt wird: Ein Volk schafft sich ab. Dass Andreas Mölzer darüber in Trauer um das eigene Volk verfällt, wird niemanden überraschen, der regelmäßig "Zur Zeit" konsumiert, er kann sich aber damit trösten, dass die Volksabschaffung nicht nur das österreichische Volk betrifft. Aus Deutschland wird "Buntland": Der Anteil der "Biodeutschen" geht kontinuierlich zurück, und um die Mitte des Jahrhunderts könnten die Autochthonen zur Minderheit werden.

Völkische Nahtoderfahrung

Ein Problem, das sich hierzulande mit dem Ama-Gütesiegel für jene Ab-Hof-Autochthonen leicht beheben ließe, die in den nächsten dreißig Jahren nachwachsen und ihre Verwurzelung durch die akzentfreie Artikulation der Aufforderung "Schleich di, du Oaschloch!" nachweisen können. Aber die Warnung vor der völkischen Nahtoderfahrung ist ernst zu nehmen. Denn die Befindlichkeit des Volkes befindet sich in einem Destruktionsprozess. Die Wohnbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland und genauso jene in Österreich kann sich nämlich keineswegs mehr auf gemeinsame Abstammung, gemeinsame Sprache und Kultur und gemeinsames Schicksal berufen. Wenn die Wohnbevölkerung in Österreich es dennoch tut, wie es ihr von der Volksschule an unter dem Motto "Volk begnadet für das Schöne" eingetrichtert wird, beweist das nurden Destruktionsprozess ihrer Befindlichkeit.

Göttinnen, Götter, Charlie Chaplin und Donald Duck

Bei aller Tiefgründigkeit der Analyse reicht Andreas Mölzer in "Zur Zeit" nicht ganz an Michael Köhlmeier mit dessen fabelhaftem Text für den "Kurier"heran. Dem Vorarlberger Schriftsteller ist mühelos gelungen, wovon ein philosophischer Topstar wie Immanuel Kant nimmer zu träumen gewagt hätte: Nämlich einen Bogen zu schlagen von dessen kategorischem Imperativ "Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" zu dessen Wiener Version "Schleich di, du Oaschloch!" Köhlmeier benötigte für seine Gedanken an einem traurigen Tag in traurigen Zeiten fast eine Doppelseite, und er hat damit unter Aufbietung von viel Personal, darunter diverse Göttinnen und Götter sowie Charlie Chaplin und Donald Duck, nicht gegeizt.

"Nicht einmal zum reindeutschen Arschloch"

Wer war er nun, dieser Wiener Philosoph mit seinem Imperativ? Ein unheldischer Held? Unpathetisches Pathos? Ein Witz mitten im Grauen? Eine schiere Unmöglichkeit: ein Witz, der tröstet, wo nichts gutgemacht werden kann. Als wären Pathos und Witz Schutzengel der Verzweiflung. Immerhin so viel ist für Köhlmeier gewiss: "Der Mörder hat es nicht zum Märtyrer geschafft, nicht einmal zum reindeutschen Arschloch", und das nur dank einer Wirkung des kategorischen Imperativs Wiener Prägung, an die die Königsberger Version kaum heranreichen dürfte, heißt es dort doch: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Aber wie oft und wie vielen bleibt dieser Ausgang verschlossen!

Jemanden "Arschloch" zu nennen, ist nicht fein und nicht korrekt – aber einem verdammten Attentäter zuzurufen: "Schleich di, du Oaschloch!", ist ein tröstlicher Witz inmitten einer Tragödie. Es hat uns verdammt gutgetan, davon zu hören!

So weit der Autor, ihm ist voll zuzustimmen. Von der Regierung hört man ja nichts Gescheites. (Günter Traxler, 14.11.2020)