Die Krise wäre ein Anlass, die Schule auf ihr Kerngeschäft zurückzuführen, sagt Bildungsexperte Stefan Thomas Hopmann im Gastkommentar.

Politik besteht nach Niklas Luhmann aus Entscheidungen unter der Bedingung von Ungewissheit. In genau so einer Situation befinden wir uns anscheinend gegenwärtig. Epidemiologisch ist wenigstens umstritten, wie viel Kindergärten und Schulen oder unterschiedliche Altersstufen zur Verbreitung von Covid-19 beitragen. Pädagogisch ist dagegen gesichert, dass fehlender Schulbesuch für viele Kinder und Jugendliche mit erheblichen psychosozialen Nachteilen verbunden ist und zudem sozial Schwächere mehr belastet. Ohne Schulbetrieb fehlt ihnen die soziale Nähe, die konstitutiv für eine gesunde psychische und schulische Entwicklung ist. Unklar ist zudem, ob rasches Eindämmen oder behutsames Einschränken des sozialen Umgangs ökonomisch der langfristig bessere Weg wäre. Zwischen epidemiologischer Vorsicht und sozialer Rücksicht einen angemessenen Kompromiss zu finden, ist in demokratischen Gesellschaften wie der unseren eine politische Abwägung, die sich durch keine Wissenschaft ersetzen lässt.

Chronische Probleme

Dieses vermeintliche Entweder-oder zwischen Offenhalten und Schließen des Schulbetriebs ist aber in einem entscheidenden Punkt irreführend. Welche Rolle Kindergärten und Schulen während der Pandemie spielen, ist ja keine allein vom Virus bestimmte Größe. Man hätte ja auch die Zeit seit der ersten Corona-Welle dazu nutzen können, alle Bildungseinrichtungen auf die wahrscheinliche zweite Welle vorzubereiten: technisch durch eine bessere Ausstattung von Schulen, Lehrkräften und Schülerschaft; organisatorisch durch eine Auffächerung des Schulalltags, die zeitlich versetzte Anfänge, Gruppenteilungen und flexible Unterrichtsgestaltung erlaubt; personell durch Einstellung des dafür notwendigen Betreuungspersonals.

"Scheinheiliges Hilfsangebot." Minister Heinz Faßmann in der Sommerschule eines niederösterreichischen Gymnasiums.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Leider gehören technologische Rückständigkeit, organisatorische Erstarrung und der Mangel an Assistenzpersonal zu den chronischen Problemen des österreichischen Bildungswesens, die seit Jahrzehnten bekannt sind. Ärgerlicherweise kommt hinzu, dass sich der Bundesminister als Minister für gymnasiale Schulangelegenheiten bei gelegentlicher Berücksichtigung sonstiger Schulformen zu begreifen scheint. Das wenige, was er zustande bringt, ist zunächst meist auf die Bundesschulen, sprich: Gymnasien, beschränkt. Alle anderen werden auf die leeren Kassen der Bundesländer vertröstet.

Viele Schwachstellen

Es gibt jedoch jenseits dieser Schwachstellen einen noch viel grundlegenderen Fehler in der Herangehensweise des Ministeriums. Wie schon in der ersten Pandemiewelle sind dessen Bemühungen vor allem darauf gerichtet, so viel vom Lehrplan und den darauf aufbauenden Prüfungen zu retten wie nur möglich. Dass dies bei Online-Unterricht zulasten derjenigen geht, die über weniger außerschulische Bildungsressourcen verfügen, ist seit langem bekannt. Einschlägige Forschung lässt erwarten, dass genauso im Pandemie-belasteten Schulunterricht weniger Wissen als sonst verbreitet wird und die sozialen Gräben tiefer werden. Wie viel Lernen dabei auf der Strecke bleibt, ist noch ungewiss, nicht aber, wen es trifft. Die Strategie des Ministeriums ist also nichts anderes als blanker Sozialdarwinismus mühsam verkleistert durch scheinheilige Hilfsangebote wie die für diesen Zweck folgenlosen Sommerkurse.

"Nicht die Menge, sondern die Qualität ist entscheidend."

Auch dieses Problem ist nicht erst durch die Pandemie entstanden, sondern Folge von zwei Jahrzehnten Bildungspolitik, die – angetrieben von Pisa-Angst und als Bifie institutionalisiertem testtheoretischen Größenwahn – die Leistungserwartungen im Schulbetrieb immer weiter ausdifferenzierte bis hin zu den jetzt im Umlauf befindlichen Fantasien von lückenlosen Kompetenzen in tausenderlei Dingen. Dabei wird übersehen, dass Schule historisch und empirisch gar nicht als Ort unbegrenzter Wissensanhäufung konstruiert ist, sondern – wie Humboldt das schon vor 200 Jahren formuliert hat – als Ort, an dem es um das "Lernen des Lernens" geht. Dafür kommt es darauf an, exemplarisch verschiedene Modi des Weltverstehens auszuprobieren: mathematisch, sprachlich, naturwissenschaftlich, ästhetisch, religiös. Nicht die Menge, sondern die Qualität ist entscheidend. Deswegen waren Lehrpläne ursprünglich auch nicht als Pflichtprogramm, sondern als Angebot konstruiert, aus dem je nach lokalen Erfordernissen ausgewählt werden konnte. Das erlaubt nicht zuletzt jenen, die weniger Ressourcen haben oder mehr Hilfe brauchen, sich solidere Grundlagen für das eigene Lernen zu verschaffen.

Lehrkräfte loben

Krisen können eine Chance sein. Das Scheitern des Schulbetriebs an seinen eingebauten Schwächen und überzogenen Erwartungen könnte Anlass sein, Schule wieder auf ihr Kerngeschäft zurückzuführen. Als ersten Schritt bedürfte es dafür nicht mehr, als den Lehrkräften die von Humboldt angedachte Lehrplanfreiheit zurückzugeben: Konzentriert euch auf das, was genau euren Kindern und Jugendlichen zu nachhaltigen Lernerfahrungen verhilft. Interessanterweise haben viele Lehrkräfte dies in der ersten Pandemiewelle versucht. Man hätte sie loben sollen, anstatt immer wieder auf offenkundig untauglichen Vorschriften zu beharren. Aus ministeriellen Fesseln entlassen, wäre es für die meisten Bildungseinrichtungen auch viel einfacher, Pandemie-verträgliche Organisations- und Arbeitsformen umzusetzen und so den Schulbetrieb offen zu halten. Laut Luhmann sind die meisten Ungewissheiten, zwischen denen Politik glaubt sich entscheiden zu müssen, von ihr selbst erzeugt. So ist es auch in diesem Fall. (Stefan Thomas Hopmann, 14.11.2020)