Mit zahlreichen Kerzen wird in der Wiener Innenstadt weiterhin um die Opfer des Anschlags getrauert.

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Mehr als 2.000 Seiten umfassen die Akten zum Terroranschlag des 2. November in Wien mittlerweile: Zu lesen sind dort unter anderem Einvernahmen von Beschuldigten und Zeugen, Berichte über frühere Verurteilungen und die Biografie der 21 Verdächtigen sowie eine Rekonstruktion des Tatherganges. Besonders drängend ist für Ermittler derzeit eine Frage: Wusste jemand vorab von den Anschlagsplänen – oder gab es neben K. F. sogar einen zweiten Mittäter?

Fakt ist jedenfalls, dass der Verfassungsschutz rasch nach dem versuchten Munitionskauf des späteren Attentäters in der Slowakei mit den Wiener Behörden "weitere Maßnahmen" gegen den späteren Attentäter vorbereitete. Aufgrund der "Vorbereitung der Umsetzung der Maßnahmen eines extrem umfangreichen gerichtsanhängigen Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Graz" waren diese "nicht durchführbar". Ob sie den Anschlag hätten verhindern können, muss nun die Untersuchungskommission klären, die von Innen- und Justizministerium eingesetzt wurde. Binnen vier Wochen sollen erste Ergebnisse vorliegen.

Bei dem Verfahren dürfte es sich um die "Operation Ramses" (später: Luxor) handeln, die gegen angebliche Mitglieder der Muslimbruderschaft wegen des Verdachts auf Terrorfinanzierung durchgeführt wurde. Eine Woche nach dem Anschlag gab es hier Hausdurchsuchungen, U-Haft wurde in dieser Causa bislang keine verhängt. Offenbar hat das BVT also Ressourcen in eine Operation ohne Gefahr im Verzug gesteckt, anstatt nach versuchtem Munitionskauf und anderen Alarmsignalen gegen den späteren Attentäter zu handeln.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) bestätigte am Samstag in der Ö1-Reihe "Im Journal zu Gast", dass bei der Razzia "weit über 20 Millionen" Euro an Vermögenswerten sichergestellt und eingefroren worden. Der höchste Bargeldfund habe rund 100.000 Euro betragen – wenn so eine Summe bei einem Imam oder einer Moschee sichergestellt werde, sei das für die Ermittler ein "klares Indiz", dass das Geld in der Terrorfinanzierung verwendet werde, so Nehammer.

Offiziell "fix" nur ein Einzeltäter

Auch abseits davon sind viele Fragen offen: Offiziell sprach Nehammer schon zwei Tage nach dem Anschlag von einem Einzeltäter. In den Unterlagen, die dem STANDARD vorliegen – sie sind datiert auf vergangene Woche –, klingt das ganz anders. "Ob der Hauptbeschuldigte den terroristischen Anschlag alleine durchgeführt hat, ist derzeit nicht bekannt", heißt es da, und: "Die Beteiligung zumindest einer zweiten Person an den unmittelbaren Anschlagsorten kann aufgrund des aktuellen Ermittlungsstandes nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden."

Am Freitag sprach Michael Lohnegger, der Leiter der eigens eingerichteten Ermittlungsgruppe, in einer Pressekonferenz davon, dass "fix" nur ein Täter unmittelbar an der Tat beteiligt gewesen sei. Dass er aber nicht allein am Tatort anwesend war, kann man in Polizeikreisen nicht ausschließen. Bisher konnte nicht jede Person, die auf den eingegangenen Videos zu sehen ist, als Zeuge oder Opfer identifiziert werden, heißt es.

In dem Bericht steht jedenfalls, zwar könne laut aktuellem Ermittlungsstand "aufgrund der Videoauswertung lediglich er als Täter ermittelt werden", es gebe jedoch "einige Zeugenaussagen, wonach es möglicherweise zumindest einen weiteren Täter gegeben haben könnte". Die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen müsse nun geprüft werden. Außerdem würden laufend Hinweise auf mögliche Mittäterschaften eingehen.

Die bislang einvernommenen Verdächtigen weisen jedenfalls strikt von sich, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein oder vorher davon gewusst zu haben. Mehrere Verdächtige konnten noch in der Terrornacht den Angreifer anhand kursierender Videos identifizieren. Laut Ermittlungsakten riet ihnen die Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ), sofort die Polizei aufzusuchen, was auch passierte. Einer der Verdächtigen soll während der Tatnacht versucht haben, den Attentäter zu erreichen, um ihn von seiner Aktion abzubringen.

Enorme Bargeldfunde

Wenige Stunden nach den tödlichen Schüssen in der Wiener Innenstadt wurde per Journaldienst bereits die Genehmigung zu Hausdurchsuchungen erteilt.

Auch die Funde, die bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurden, sind bemerkenswert. Da ist etwa die Rede von zahlreichen Telefonen und Spielkonsolen, aber auch von einer Gaspistole und einem Ring mit dem Siegel des Propheten Mohammed, wie ihn auch der Attentäter während der Tat getragen haben soll.

Und von viel Geld: Bei einem, der K. F. aus einer Moschee kennen soll, wurden neben USB-Sticks, drei Telefonen und einem Laptop auch fast 4.000 Euro sichergestellt – das ist insofern brisant, weil gegen den Bruder des Beschuldigten gerade wegen des Verdachts der Terrorismusfinanzierung ermittelt wird. Bei einem anderen Beschuldigten wurden in verschiedenen Geldbörsen über 46.000 Euro sichergestellt. Der Beschuldigte soll dabei auf seine Eltern verwiesen haben.

Jener Beschuldigte war auch im Deradikalisierungsprogramm Derad und habe zu K. F. ein "freundschaftliches, aber distanziertes" Verhältnis gehabt, heißt es in den Unterlagen. Befragt dazu, ob er bei K. F. Anzeichen eines Anschlags gesehen hätte, soll dieser angegeben haben, "dass es sein Traum ist, sich einmal mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft zu jagen". Wo und wann er das machen wolle, habe er jedoch nicht erzählt.

Treffen "namhafter Islamisten mit Beziehungen zum IS"

Auch das Treffen deutschsprachiger Jihadisten in Wien liegt im Fokus der Ermittler. Der Verfassungsschutz konnte den Aufenthalt zweier deutscher und zweier schweizerischer Extremisten nach Tipps aus dem Ausland observieren. Die beiden Deutschen kamen via Wizzair von Dortmund nach Wien, sie wurden vom späteren Attentäter und einem Verdächtigen vom Flughafen abgeholt. In den Tagen danach "kam es zu mehreren Treffen und Moscheebesuchen" mit dem Attentäter, der die beiden auch beherbergte. Auch das "Auftreten zweier Personen aus der Schweiz" wurde beobachtet, sie sitzen dort nun in U-Haft. Ein weiterer deutscher, einschlägig amtsbekannter Jihadist könnte sich mit der Gruppe in einer Moschee getroffen haben. Die Ermittler sprechen von einem "innereuropäischen Netzwerk namhafter Islamisten mit Beziehungen zum IS", es bestehe der Verdacht, "dass dieses Treffen etwas mit dem Anschlag zu tun haben könnte".

Denn nur einen Tag später, am 21. 7., fuhr der spätere Attentäter in die Slowakei, um Munition zu kaufen. Auch dieser Ausflug wird in den Unterlagen anders bewertet, als bisher in der Berichterstattung angenommen wurde. Da ging man schon am Mittwoch nach der Tat davon aus, dass der versuchte Munitionskauf fehlgeschlagen war. Fest steht: Der spätere Attentäter und ein weiterer nun Beschuldigter, A. F., fuhren im Sommer 2020 mit einem Auto, das auf A. F.s Mutter zugelassen war, in die Slowakei. Der Händler soll den Verkauf jedoch verweigert haben, weil die beiden keine Waffenlizenz vorweisen konnten. Das soll laut BVT die slowakische Behörde Ende August gemeldet haben. Die slowakische Sicherheitsbehörde schickte auch Bilder der beiden, das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz erkannte K. F. und ersuchte die Slowakei um weitere Informationen.

Erst im Oktober 2020 habe die sich wieder gemeldet und für die späte Antwort entschuldigt. Und sie lieferte weitere Informationen: Der Inhaber des Waffengeschäfts soll K. F. als möglichen Käufer der Munition wiedererkannt haben, den Begleiter jedoch nicht. Und: Im Bericht heißt es wortwörtlich: "Es konnte auch noch nicht abgeklärt werden, ob F. tatsächlich Munition gekauft oder dies nur versucht hat." (Gabriele Scherndl, Fabian Schmid, 14.11.2020)