Die zweite Welle führt zu erneuten Schulschließungen.

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Und sie haben es doch getan. Ungeachtet der so noch nie dagewesenen, weltanschaulich wie wissenschaftsdisziplinenmäßig extrem breiten bildungspolitischen Front gegen einen Schul-Lockdown schließt die Regierung, vor allem auf Wunsch des Kanzlers, alle Schulen. Ja, mit Schlupflöchern für all jene Kinder, die die Schule "brauchen". Das ist schon des Pudels Kern: Welches Kind braucht die Schule denn nicht?! Das ist ja nicht irgendeine beliebige Bespaßungs- oder Aufbewahrungsinstitution. Türkis-Grün aber verordnet ab Dienstag drei Wochen Bildungsausstand und -notstand.

Betreuungs- und Lernbedarf

Dabei hat bis heute niemand der verantwortlichen Politiker erklärt oder begründen können, warum die Schulen – entgegen den auf epidemiologischen Cluster-Analysen und virologischen Daten basierenden Empfehlungen der Corona-Kommission, pädiatrischen Fachgutachten und Public-Health-Expertisen – geschlossen werden müssen. Das Faktum, dass alle Kinder mit Betreuungs- oder Lernbedarf in die Schule dürfen, bedeutet ja, dass im Extremfall hundert Prozent kommen könnten. Pandemieverträglich? Ist das eingepreist in Lockdown Nr. 2,5? Kommt es doch nicht so auf die Schulangehörigen an? Wo sind Berechnungen, Modelle oder Schätzungen, dass der Nutzen von Schulschließungen größer ist als der Schaden, wenn man Kindern (und Eltern) die Schule vorenthält?

Lauter Fragen, die die Regierung nicht inhaltlich beantwortet hat. Ihre Antwort auf alle lautet: Wir schließen jetzt einmal die Schulen bis 7. Dezember. Und das ist verhängnisvoll, weil es den Eindruck erweckt, dass einfach alles evidenzblind und panisch in die Schlacht gegen das Coronavirus geworfen wird. Aber Panik ist immer schlecht. Im Blindflug durch die Corona-Krise zu taumeln und das systemkritische Soziotop Schule, an dem viel mehr hängt als "nur" Kinder, Eltern und Lehrer, den hohen Preis dafür zahlen zu lassen erst recht.

Ja, Schulen sind keine seligen Inseln in der Pandemie. Aber sie waren und sind – verglichen etwa mit überlaufenen Shoppinghöllen – Orte relativer Stabilität und Sicherheit in einer Welt, in der alles unsicherer geworden ist. Oder wie kommt es, dass die Oberstufen, die bereits "herausgeholt" wurden ins Distance-Learning, just in dieser Phase höhere Infektionsraten produziert haben als die jüngeren Schüler?

Kinder und Lehrer alleingelassen

Der Generalschlüssel der Regierung kennt derzeit nur eine Richtung: zu! Damit wird zumindest für drei Wochen ihr Versäumnis zugedeckt, dass die Schulen und alle, die dort viel Lebenszeit verbringen – Kinder und Lehrer –, monatelang mehr oder weniger alleingelassen wurden mit Corona, bis sich die Situation, außerhalb der Schulen wohlgemerkt, dramatisch zugespitzt hat. So sehr, dass die Entscheider nicht mehr differenzieren und mit dem großen Hammer zuschlagen, statt die spezifischen Schutzbedürfnisse von Kindern ernst zu nehmen.

Den ersten Schul-Lockdown konnte man noch auf höhere Gewalt schieben, für den zweiten muss die Regierung die Verantwortung übernehmen – sollten wir aber in einen dritten hineintorkeln, wäre das ein Akt vorsätzlicher Kinderverletzung. (Lisa Nimmervoll, 15.11.2020)