Gesundheitsminister Rudolf Anschober hat am vergangenen Samstag Verschärfungen des zweiten Lockdowns verkündet.

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Das Coronavirus bereite ihm weniger Sorgen als die gefährlichere Grippewelle: Das sagte Gesundheitsminister Rudolf Anschober Ende Jänner. Eineinhalb Monate später bescherte die Pandemie Österreich den ersten Lockdown – und ließ das Land seither nicht mehr aus ihrem Griff.

Der damalige Irrtum ist verzeihbar. Für Politiker wie Experten war das eingeschleppte Virus ein unbekanntes Phänomen mit kaum abschätzbaren Dimensionen. Das hat sich in den achteinhalb Monaten seit dem ersten dokumentierten heimischen Ansteckungsfall jedoch geändert. Mittleweile ist viel über Ausbreitung, Gefährlichkeit und die Wirksamkeit von Gegenstrategien bekannt. Trotzdem riss Anschobers Kette der Fehleinschätzungen nicht ab. Sie führte direkt in die nun angebahnte zweite Vollbremsung.

Anschobers Wortmeldungen legen nahe, dass der Minister und sein Team den von Fachleuten prophezeiten Infektionssprung im Herbst sträflich unterschätzt haben. Ende September versprühte der grüne Ressortchef öffentlich Optimismus, dass Österreich von der zweiten Welle verschont bleibe. Noch am 27. Oktober, als die Ansteckungszahlen längst explodierten, versicherte er: Eine Situation, die einen zweiten Lockdown nötig mache, sei "weit entfernt".

Stimmungslage in der Bevölkerung

Dabei geht es nicht um semantische Spitzfindigkeiten. Botschaften von Politikern sind entscheidend für die Stimmungslage in der Bevölkerung. Verortet der zuständige Minister das Worst-Case-Szenario irgendwo außerhalb der Sichtweite, wiegt er die Leute in Sicherheit, statt sie zu mehr Disziplin beim Einhalten der Corona-Regeln anzustacheln. Entweder hat der mit einem Hang zur tröstlichen Botschaft ausgestattete Anschober die Beruhigungspillen wider besseres Wissen verteilt – oder er wird von den Fachleuten, die ihm hoffentlich zur Seite stehen, schlecht beraten.

Grob verkalkuliert hat sich der Minister mitsamt der Regierung auch beim ersten Bremsmanöver. Der Anfang November verhängte Lockdown light hat abgesehen davon, dass vergnügungslustige Menschen von den Wirtshäusern und Cafés in die Einkaufszentren ausgewichen sind, nur eine bescheidene Wirkung entfaltet. Wenn Maßnahmen derartig fehlschlagen, lässt sich dem Vorwurf von SPÖ-Chefin Pamela Randi-Wagner kaum widersprechen: Da zeigt sich nichts anderes als Kontrollverlust.

Ignoranz mancher Mitmenschen

Natürlich ist die Bundesregierung nicht allein schuld. Die Länder haben offenbar verschlafen, das Contact-Tracing – Kontaktverfolgung im Infektionsfall – stark genug auszubauen, und die Ignoranz mancher Mitmenschen ist zum Verzweifeln. Es spricht Bände, wenn viel zu viele Leute vor jeder Verschärfung – ob beim Shoppen oder beim Saufen – noch partout einen draufmachen.

Doch eine Regierung kann sich ihr Volk nicht aussuchen. Die Kunst der Politik besteht darin, Handlungen so zu setzen, dass sie unter den gegebenen Umständen wirken. Dass es mit der Eigenverantwortung in Sachen Corona hierzulande nicht weit her ist, war seit dem Sommer ja kein Geheimnis mehr.

Selbst in den düsteren Stunden vor dem Herunterfahren hat Anschober Erbauliches parat: Mit der Aussicht auf "ein Weihnachten wie früher" sorgt er für leuchtende Augen – mutig angesichts der knappen Zeit. Wenn das Generalziel darin besteht, das frohe Fest und die vorgelagerte Konsumorgie zu retten, dann wirft der Lockdown aber vor allem eine Frage auf: Warum erst jetzt? (Gerald John, 15.11.2020)