Tools fragen zum Beispiel ab, ob verurteilte Terroristen noch Beziehungen zu anderen Extremisten haben.

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Es ist einer der heikelsten Punkte im Antiterrorpaket der Regierung: "Gefährliche" Terroristen sollen nach Verbüßen ihrer Strafhaft analog zum Maßnahmenvollzug weiter inhaftiert bleiben. Die Richtervereinigungspräsidentin Sabine Matejka wies bereits darauf hin, dass hier der "verfassungsrechtliche Rahmen sehr eng" sein werde: "Die Gefährdungseinschätzung wird der wesentliche Punkt sein – und wie stelle ich fest, ob das verhältnismäßig ist?"

Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer zeigt sich überzeugt, dass das Paket menschenrechtskonform umgesetzt werden könne. Sie stellte klar, dass Terroristen nicht in den Maßnahmenvollzug für psychisch Kranke kommen sollen, sondern eine eigene Unterbringungsform geschaffen werden solle.

Basis dafür solle eine "professionelle und Standardisierte Gefährdungseinschätzung durch Experten" sein. Die Maßnahme müsse vom Gericht gleichzeitig mit dem Urteil verhängt werden.

Wie die Einschätzung genau vonstattengehen soll, müsse man noch mit Experten diskutieren, heißt es von grüner Seite. "Prognosen für menschliches Verhalten sind nahezu unmöglich", sagt allerdings der Psychiater Reinhard Haller. Er ist einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der psychiatrischen Forensik, der unter anderem Gutachten über den Briefbomber Franz Fuchs und NS-Verbrecher erstellt hat. "Meistens sind Terroristen psychisch nicht schwerkrank", sagt Haller dem STANDARD, auch wenn zum Beispiel beim Neonazi und Massenmörder Anders Breivik oder bei Fuchs eine hohe Prävalenz für eine psychische Störung vorlag.

Vera-R2 hilft mit

Wenn aber die sogenannte "geistige Abnormität" nicht das entscheidende Kriterium sei, stelle sich die Frage, woran man eine Gefährlichkeit verurteilter Terroristen festmachen könne. "Die forensische Methode stößt hier an ihre Grenzen."

Positiv sei, dass bei der Beurteilung der Unterbringung von Terroristen Fallkonferenzen entscheiden würden. "Durch verschiedene Per-spektiven erreicht man eine hohe Treffsicherheit", sagt Haller. Außerdem tendierten einzelne Gutachter dazu, im Zweifel gegen eine Freilassung zu plädieren. Bei Fallkonferenzen sei die Verantwortung hingegen "auf mehrere Schultern verteilt".

Sollte diese Regelung kommen, plädiert Haller dafür, dass diese Fallkonferenzen jedenfalls "regelmäßig und oft" stattfinden.

Für die Regierungspläne sollen dem Vernehmen nach Tools wie Vera-2R (Violent Extremism Risk Assessment Version 2 Revised) eine zentrale Rolle einnehmen. Dieses Instrument liefert eine Skala zur Beurteilung des Risikos extremistischer Gewalt, die aus über 30 Indikatoren besteht. Diese gliedern sich in mehrere Kategorien. Es geht um unterschiedliche Themenbereiche, von Ideologie über Lebenslauf bis zu psychischen Krankheiten. Etwa: Sieht man sich als "Opfer von Ungerechtigkeit und Benachteiligung" oder "dämonisiert" man andere. Außerdem geht es um das Umfeld des Klienten, dessen Geschichte und Kompetenzen (etwa Zugang zu Geld), Engagement und Motivation (etwa Bindung an eine Gruppe und Ideologie) oder die Teilnahme an Deradikalisierungsprogrammen.

Hierzulande arbeitet etwa die Bewährungshilfe Neustart mit Vera-2R. Konkret ist es bei etwa 50 Klienten des Vereins im Einsatz. Auch beim Wiener Attentäter wurde es angewandt. Bei der Verwendung des Tools gehe es allerdings nicht darum, eine konkrete Prognose für das Verhalten zu erstellen, sagt Andreas Zembaty, der Sprecher von Neustart. Es helfe vielmehr, den Intensitätsgrad der Betreuung einzuschätzen. "Es kann aber nie die einzige Entscheidungshilfe sein", betont Zembaty. Zudem müsse es regelmäßig angewendet werden: "Man erhält kein Gutachten, das für Jahre gilt. Mit einem Algorithmus kann man kein menschliches Verhalten vorhersagen." Zusätzlich habe man noch ein eigenes Tool entwickelt, in das die bisherigen Erfahrungen von Neustart eingeflossen seien, sagt Zembaty.

Prognoseforschung

"Die Anwendung von Vera-2R setzt eine gute Fallkenntnis voraus", schreibt Michail Logvinov im "Siak-Journal", einer Zeitschrift des Innenministeriums. Er kritisiert die Anwendung, weil sie "hauptsächlich auf anekdotischen Evidenzen und Urteilen von konsultierten Anwendern" basiere. Generell sei festzuhalten, dass trotz gegenteiliger Verlautbarungen die Prognoseforschung erst am Anfang ihres Wegs stehe und "im Blick auf ihre empirische Fundiertheit sowie theoretische Verankerung einen großen Nachholbedarf aufweist".

Im Justizbereich sei das Tool laut Justizministerium "derzeit in Erprobung", die Anwendung in den Justizanstalten in Vorbereitung. Es soll eine "zu- oder abnehmende Gewaltbereitschaft oder zu- oder abnehmende Ablehnung einer Ideologie" aufzeigen. Es gehe darum, "zu einem Verständnis der Person" zu kommen.

Nur ein Hilfsmittel?

Die Ergebnisse sollen auch bezüglich des weiteren Umgangs mit den betreffenden Insassen hinsichtlich der Form der Beschäftigung oder der Unterbringung herangezogen werden. Es ersetze aber "keine gutachterliche Gesamteinschätzung". Zudem werde ein weiteres Tool (Dyrias) für die Ersteinschätzung möglicher islamistisch ausgerichteter Radikalisierungsprozesse eingesetzt.

Die Extremismusprävention ginge aber jedenfalls über die Risikoinstrumente hinaus. Auch die Kooperation mit dem Verein Derad, der mit den Deradikalisierungsprogrammen für einschlägige Insassen beauftragt wurde, zähle zu den Maßnahmen. Ein Risikoassessmenttool könne "ein interessantes Hilfsmittel sein", sagt dessen Leiter Moussa Al-Hassan Diaw. Es könne aber "nicht die Zusammenschau aus verschiedenen Blickwinkeln ersetzen". Die individuelle Betreuung bleibe Voraussetzung, um die Anschauung schrittweise zu verändern.

Fakt bleibe außerdem, sagt Haller: "Absolute Sicherheit wird es nie geben." Denn dafür "müssten wir alle einsperren", bei denen es auch nur geringe Anzeichen für Gefahr gebe. Das sei ein zu hoher Preis, sagt Haller. Denn: "Freiheit ist unser höchstes Gut." (Vanessa Gaigg, Fabian Schmid, 17.11.2020)