Darf jemand in einem Medium als "Mörder", "Erpresser", "Haschbauer", "Einbrecher", "Todesschütze" oder schlechthin als Täter einer strafbaren Tat bezeichnet werden, wenn er nicht verurteilt ist? Nein, sagten in all diesen Fällen die Gerichte. Wer in einem Medium als Täter einer gerichtlich strafbaren Handlung hingestellt wird, ohne rechtskräftig verurteilt zu sein, hat gegen den Medieninhaber Anspruch auf "Entschädigung für die erlittene Kränkung". Theoretisch geht das bis 20.000 Euro, in der Praxis sind es selten mehr als einige wenige tausend Euro.

Auch noch genug Geld, überhaupt dann, wenn man kein professioneller Medieninhaber ist, sondern nur bloggt, twittert oder auf Facebook postet. Moment – sind das überhaupt Medien? Ja, wenn das, was ich über derartige Kanäle in die Welt setze, für "einen größeren Personenkreis" (so § 1 Abs. 1 Z 1 MedienG) wahrnehmbar ist (egal ob diese Personen eine Nachricht nun wirklich zur Kenntnis nehmen oder nicht). Wer sein Facebook-Profil nur für ein paar Dutzend "Freunde" einsehbar macht, zu denen auch tatsächlich ein Freundschaftsband besteht, betreibt kein Medium. Je mehr es sind und je lockerer die Verbindung untereinander, desto eher wird es ein Medium sein.

"Archimedischer Punkt der rechtlichen Beurteilung"

Als ein Politiker in einer Aussendung zu Covid-Tests in einem Asylwerberheim von einem "Asylantenvirus" sprach, sorgte das für einige Empörung, auch bei einem twitternden Schriftsteller: "XY entblödet sich nicht, das Corona-Virus als Asylantenvirus zu bezeichnen mit der Lüge, dass es von Asylanten ausgehe – weil 22 Asylanten und 4 Betreuer infiziert waren. Nenne das eine nach § 283 StGB strafrechtlich relevante Verhetzung", twitterte er. § 283 StGB bezeichnet es als strafbar, für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar gegen bestimmte Gruppen, die etwa nach Kriterien der Hautfarbe, der Religion, der Abstammung et cetera definiert werden, zu hetzen oder sie in einer die Menschenwürde verletzenden Weise zu beschimpfen und dadurch verächtlich zu machen.

Der Politiker ging zu Gericht und stellte einen Antrag auf Entschädigung nach § 7b MedienG. Er sei hier als Täter einer gerichtlich strafbaren Handlung bezeichnet worden. Mitnichten, entgegnete ihm nicht nur die erste Instanz, sondern auch das Oberlandesgericht Wien (OLG). "Archimedischer Punkt der rechtlichen Beurteilung", so das Gericht, "ist die Auslegung der in Streit stehenden Äußerung, also die Ermittlung ihres Sinngehalts."

Passen Sie auf, was Sie posten, auch wenn es "nur" Twitter oder Facebook ist. Hier publizierte Beschuldigungen können auch vor Gericht landen.
Foto: AFP/LIONEL BONAVENTURE

Gerichte betrachten den Kontext

Den Bedeutungsinhalt zu ermitteln ist Aufgabe des Gerichts. Nun, was war der Bedeutungsinhalt dieses Tweets? Schon das Erstgericht hatte gemeint, dass dessen Adressaten, die literarisch wie politisch interessiert sind, die Wendung "Nenne das …" eindeutig als von der Meinungsfreiheit geschützte persönliche Meinung zu dem zitierten Sachverhalt verstehen würden, nicht jedoch, dass der Politiker bereits als überführt und schuldig, den Tatbestand des § 283 StGB begangen zu haben, hingestellt würde. So sah das auch das OLG: "Orientiert an der gebotenen Interessenabwägung zwischen den konfligierenden Werten des Schutzes der Persönlichkeit einerseits und der freien geistigen Auseinandersetzung andererseits" hielt die zweite Instanz die erstinstanzliche Einschätzung für korrekt. Es durfte nicht außer Acht gelassen werden, dass der Tweet eine unmittelbare Reaktion auf eine Berichterstattung des ORF war, dass dem Politiker Anzeigen drohten, weil er sich den Vorwurf der Verhetzung eingehandelt hatte, und SPÖ und Grüne die Aussendung als "widerlichen rassistischen Müll", als "letztklassig, menschenverachtend und hetzerisch" bezeichnet hatten. Der Kommentar war demnach "eindeutig eine persönliche Einschätzung und Meinung", keinesfalls wurde der Politiker als bereits "überführt und gebrandmarkt hingestellt".

Also: Die Gerichte betreiben keine Wortklauberei, sezieren nicht einzelne Sätze, sondern betrachten den Kontext. Geht aus dem Gesamtzusammenhang und der Wortwahl hervor, dass der Autor nicht vorverurteilt, niemanden als bereits überführt und schuldig hinstellt (und dieses "hinstellt" ist ja Gesetzestext, der das Brandmarken, die Prangerwirkung meint, was erst den Tatbestand des § 7b MedienG verwirklicht) – dann bewegen wir uns im Bereich der freien Meinungsäußerung, ohne die es keine "freie geistige Auseinandersetzung", wie das Gericht richtig betont, gibt. Die "freedom of expression" ist ja schließlich ein von Menschenrechtskonvention und Verfassung geschütztes Grundrecht. Natürlich, die Menschenwürde des Kritisierten liegt auf derselben Ebene, diese beiden elementaren Rechte sind daher gegeneinander abzuwägen. Aber selbst die Vornahme einer rechtlichen Qualifikation (wie hier: "Verhetzung nach § 283 StGB") kann sich im geschützten Bereich der Meinungsfreiheit bewegen, solange sie aus dem kontextuellen Sachverhalt ableitbar und als rein persönliche Meinung erkennbar ist.

Was ist mit Trottel?

Stimme aus dem Publikum: "Danke, das habe ich so weit verstanden. Aber wie ist das zum Beispiel mit Trottel? Oder: Alle in der Regierung sind Dreckskerle?" Tja, es kommt drauf an, natürlich schon wieder auf den Kontext. Aber, so ein Glück – auch dazu haben sich schon Gerichte geäußert. Details im nächsten Blogbeitrag. (Thomas Höhne, 19.11.2020)