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Der vorerst letzte Ansturm ist abgeebbt: Ein Bild der Ruhe aus der Shopping City Süd nach Inkrafttreten des zweiten, nunmehr "harten" Lockdowns.

Foto: Reuters/Föger

Orte, ob sie nun klingende Namen tragen oder dem Vorüberfahrenden nur durch Autobahnschilder in Erinnerung gerufen werden, verdienen das Zutrauen ihrer Bewohner. Sie werden von diesen als wohlgegründet erachtet, wenn sich innerhalb ihrer Grenzen Platz auftut. Wenn sich in ihnen ausreichend bauliche Substanz findet, außerdem Zeit und Gelegenheit, für sinnstiftendes, gemeinschaftliches Handeln.

Tritt aus pandemischen Gründen eine Flut von immer härteren Lockdowns in Kraft, trifft das die Gesellschaft mitten ins Herz. Ihre Identität bezieht die lokale Gemeinschaft aus der Bewohnung des Orts, der den Anwesenden das Vorhandensein einer gleichermaßen wirksamen, für alle gleich ausschlaggebenden Geschichte verbürgt. Aus solchen Quellen erwächst Sinn, der orientierend wirkt.

Wer hingegen nur auf Handel und Transit aus ist, auf die Bewältigung von Fitness und Freizeit, der begibt sich auf das Feld der "Nichtorte". Er nützt damit Räume, die lediglich in Bezug auf bestimmte Zwecke geschaffen wurden. Noch die trostlose Rückseite jeder Shoppingmall kündet von der provisorischen Dimension ihrer hastigen Errichtung: geduckte, hingestreckte, weit ausladende Tempel des Konsums, zusammengeschustert an der Peripherie von Ballungsräumen.

Monumente und Stätten

Das Herz schlägt weiterhin in der Mitte. Der Wiener wird seinen Stephansdom noch dann im Stillen grüßen, wenn er den Zeremonien der katholischen Kirche mit größtem Desinteresse begegnet. Menschen, das wissen sowohl der Ethnograph als auch der Anthropologe, bilden Gemeinschaften vornehmlich dort, wo sie Sinnressourcen miteinander teilen: vor Monumenten, Stätten des Kultes, vor den Mahnmalen der Erinnerung.

Über sie lässt sich trefflich streiten. Viel wahrscheinlicher aber setzt man ihr Vorhandensein stillschweigend voraus. Das Odeur des gemeinsamen anthropologischen Ortes umgibt den Kulturteilnehmer wie eine Hülle. Im Jargon des französischen "Nähe"-Ethnologen Marc Augé (85), des begrifflichen Schöpfers der "Non-Lieux", heißt das: "Der Bewohner des anthropologischen Ortes lebt in der Geschichte, er macht sie nicht."

Es ist der "harte" Lockdown, der den Menschen das gemeinsame Recht auf Nähe und (gelegentlich erfahrbare) Gemeinschaft für die Dauer einiger Verordnungszyklen wegnimmt. Unsere "Übermoderne" (Augé), ohnehin von allerlei Formen des Übermaßes gekennzeichnet, fügt dem Netz an hochbedeutsamen Orten einen Puffer an "weichen" Räumen hinzu.

Wer zu diesen nicht besonders wohnlichen Zonen Zutritt erhalten will, tritt mit dem jeweiligen Nichtort in eine Art Vertragsverhältnis ein. Sein Zugangsvisum – zum Beispiel die Bordkarte seines Flugzeugs – nimmt auf seine Identität Bezug. Es entlastet ihn nur dennoch, für die Dauer der verordneten Wartezeit im Transitraum, von der Fron, "er" oder "sie" selbst sein zu müssen.

Noch die Schriften auf Bahnhöfen, all die Ideogramme, die die festgelegten Benutzungsregeln an die Verbraucher weitergeben, appellieren an uns als Individuen. Sie fordern freilich nur dazu auf, "es wie die anderen zu tun, um man selbst zu sein" (Augé). Das Geschehen des Lockdowns wird just dadurch gekennzeichnet. Es wird einmal, in den Annalen der Pandemie, als ethnographischer Eintrag einer Einsamkeit, die massenweise reihum geht, lesbar sein. Wir alle werden, restlos individualisiert, in die unzähligen Parallelwelten unserer Einsamkeiten entlassen worden sein.

Exodus an die Nicht-Orte

Bereits mit der Stilllegung der Gastronomie begann der Exodus, das massenhafte Ausschwärmen an die Nichtorte, an die Tankstellen, die Eingangsbereiche der Shops. Mit der Wegnahme des Wirtshaustisches wurden die Schankraumbewohner, freigesetzt und ihrer gewohnten Ansprache beraubt, in die Tiefe unwirtlicher Shoppingmalls entlassen. Übrig blieb ihnen nur der unmarkierte Ort. Am Tage vor Inkrafttreten des "harten" Lockdowns setzte schließlich der finale Ansturm auf die kommerziellen Nichtorte ein. Der Rest ist von nun an privat bewirtschaftete Einsamkeit.

Die "Ortlosigkeit", dem Teilnehmer an der "Übermoderne" durch die Corona-Verordnung von nun auch noch verboten, trägt er so mit heim: in die eigenen vier Wände. Wenigstens die Früchte seines Billigkonsums sollen den Corona-Weggesperrten an die Reste von Individualität erinnern: an die Freiheit, ein braver Konsument sein. Damit er später dann, vor Weihnachten, wieder kraftvoll zugreifen kann. (Ronald Pohl, 18.11.2020)