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PRO: Türkis-grünes Chaos

von Michael Völker

Nein, es ist definitiv nicht die Schuld der Bevölkerung, dass wir schon wieder in einem Lockdown feststecken. Die Bevölkerung hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten weitgehend korrekt verhalten, hat die Vorschriften und Empfehlungen eingehalten. Die allermeisten haben brav Maske getragen, haben Abstände eingehalten, haben Hände gewaschen, haben die sozialen Kontakte eingeschränkt. Das ist niemandem leichtgefallen. Aber das hat nicht ausgereicht.

Dass es ein paar Dodeln gibt, die nicht können oder wollen, die nicht genug nachgedacht haben oder die eine Prinzipfrage daraus gemacht haben – ja, diese Leute gibt es, mit denen muss man leben. Sie waren aber nicht der entscheidende Faktor. Es ist Aufgabe der Regierung, diese Leute und dieses Risiko mitzudenken und einzukalkulieren.

Die Infektionszahlen sind trotz aller Zurückhaltung in die Höhe gegangen – und wir scheinen auf diese zweite Welle nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Österreich hat, auch weltweit gesehen, eine vergleichsweise katastrophale Entwicklung genommen, was die Infektionszahlen betrifft. Das ist definitiv nicht die Schuld die Bevölkerung. Dafür ist die Politik verantwortlich; nicht allein die Bundesregierung, sondern auch die Landesregierungen, die viel zu lange die Verantwortung von sich geschoben und auf Maßnahmen derjenigen in Wien gewartet haben, die sie sonst für inkompetente Wichtigmacher halten.

Die Verordnungen, mit denen die Regierung versucht, unseren neuen Alltag zu regeln, sind juristisch schlampig und allgemein unverständlich formuliert. Das große Testen hat zu spät eingesetzt. Das Contact-Tracing funktioniert nicht mehr, da gibt es keine Strategie dahinter. Die Situation an den Schulen ist chaotisch, das ist für viele sehr belastend. Es stimmt, es gibt mit Corona keine Erfahrungswerte, auf die man zurückgreifen könnte. Aber die Naivität, mit der unsere Regierungsvertreter der Entwicklung getrotzt haben, ist fahrlässig.

In der Kommunikation sind so viele Fehler gemacht worden, dass massiv Vertrauen verspielt wurde. Gerade in einer Krisensituation wie dieser, wo wir alle darauf angewiesen sind, dass wir als Gemeinschaft funktionieren, wäre Vertrauen in die politische Führung hilfreich. Wir stecken im türkis-grünen Corona-Chaos. Und es ist anmaßend, feig und unehrlich von dieser Regierung, die Schuld bei irgendjemand anderem als bei sich selbst zu suchen. (Michael Völker, 17.11.2020)

KONTRA: Unsinnige Schuldzuweisung

von Eric Frey

Dass die Opposition als Grund für den zweiten harten Lockdown ein Totalversagen der Regierung ortet, kommt nicht überraschend. Aber auch in den Medien und der Öffentlichkeit wird die Schuld für die jüngste Explosion der Covid-Zahlen bei Türkis und Grün gesehen.

Tatsächlich ist die Liste der Versäumnisse lang; beim Testen, Contact-Tracing und Durchsetzen von Quarantänen ist viel schiefgegangen. Aber die zweite Welle, die Österreich besonders heftig erfasst hat, ist kein nationales Phänomen.

Ganz Europa und die USA kämpfen derzeit mit der rasanten Ausbreitung des Coronavirus. Und überall stehen wie bei uns die politisch Verantwortlichem am Pranger. Doch wenn außerhalb von Ostasien, wo besondere Umstände herrschen, jede Regierung im Kampf gegen Corona versagt, dann sind Schuldzuweisungen an die eigenen Politiker nicht sinnvoll.

Ein besseres Corona-Management hätte Österreich vielleicht den unrühmlichen Weltspitzenplatz bei den Neuinfektionen erspart. Aber gestiegen wären die Zahlen dennoch und hätten uns verschärfte Maßnahmen nicht erspart. Wenn Angela Merkel sich durchsetzt, steht das auch Deutschland noch bevor.

Nur eines hätte geholfen: den harten Lockdown früher zu verordnen, spätestens Mitte Oktober, als sich der Anstieg zu beschleunigen begann. Doch das hätte massive Proteste hervorgerufen und wäre kaum durchsetzbar gewesen. Es war deshalb richtig, es zunächst mit milderen Maßnahmen zu versuchen. Dass diese so wenig nutzen werden, war – auch wenn es Kritiker nun behaupten – nicht vorbestimmt.

Nicht nur die Politik, auch die Wissenschaft tappt beim Coronavirus im Dunkeln. Das Patentrezept, um den Erreger ohne massive Nebenwirkungen einzudämmen, gibt es nicht. Es ist alles eine Frage der Abwägung. Auch jetzt maulen die einen, dass der Lockdown zu spät kommt, während andere die Geschäfts- und Schulschließungen laut beklagen.

Der richtige Weg ist es, jeweils die gelindesten Mittel einzusetzen und diese nachzuschärfen, wenn sie nicht wirken. Diesem Prinzip ist Türkis-Grün seit der ersten Lockerung im April gefolgt. Im Sommer hat der Kampf gegen das Virus nachgelassen, dafür aber konnten sich Unternehmen und Menschen erholen. Dass dieser Kurs zuletzt schiefging, liegt auch an der Unberechenbarkeit des Virus, das keinen klaren Gesetzen folgt. Das erklärt, warum Topländer plötzlich Flops werden – und umgekehrt. Es ist weniger das Versagen von Kurz und Co als der böse Zufall, der Österreich nun zum Hotspot gemacht hat. (Eric Frey, 17.11.2020)