Sozialexperte Martin Schenk kritisiert in seinem Gastkommentar die Sozialhilfe-Regelung, weil sie "die Menschen in Existenznöten und Notsituationen nicht trägt".

"Mein Name ist Sarah, ich bin 33 Jahre alt und wohne in Niederösterreich. Im Alter von ungefähr 19 Jahren brach bei mir eine Autoimmunerkrankung aus. Das bedeutete wochenlange Krankenhausaufenthalte, schwere Therapien, viele Tabletten, Sprays, Spritzen und Infusionen. Sie nahm so heftig ihren Lauf, dass ich körperlich nicht in der Lage bin, mich durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu erhalten. Selbsterhaltungsunfähiges Kind nennt man das. Obwohl ich 33 Jahre alt bin." Sarah habe ich bei einer Diskussion getroffen. Sie hat mir einen Brief geschrieben. "Schreib darüber", steht darunter.

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Der Normsturz dient dazu, die Festigkeit eines Kletterseils zu messen. Würde die Sozialhilfe einen solchen Test bestehen?
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Ihre Geschichte steht für all die negativen und giftigen Folgen der gekürzten Sozialhilfe. Jetzt im Lockdown ist alles noch viel schwieriger. Corona trifft die ökonomisch Ärmsten am Arbeitsmarkt – Familien, prekäre Ich-AGs oder chronisch Kranke. Und viele, die sich das nie gedacht hätten, fallen gerade in das unterste soziale Netz. Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig jetzt eine gute Mindestsicherung wäre statt einer schlechten Sozialhilfe, die Menschen in Existenznöten und Notsituationen nicht trägt.

Menschen mit Behinderungen können gezwungen werden, ihre Eltern auf finanziellen Unterhalt zu verklagen – auch wenn sie längst volljährig sind. Wenn sich die Betroffenen weigern, wird die Leistung empfindlich gekürzt. Diese Regelung galt bisher nur in manchen Bundesländern, die neue Sozialhilfe zwingt diese schlechte Praxis jetzt allen auf. In Ober- und Niederösterreich können wir beobachten, wie die neue Sozialhilfe versagt: nämlich Menschen, die ohnehin wenig haben, krisenfest abzusichern. Beide Länder haben das Sozialhilfegesetz als Einzige eingeführt. Das bedeutet geringere Richtsätze für Erwachsene und Kinder, Anrechnung der Wohnbeihilfe oder eine uneinheitliche Vollzugspraxis bei der Berechnung des Wohnaufwands von Frauennotwohnungen. Dies führt dazu, dass Menschen in sozialen Krisen um mehrere Hundert Euro monatlich weniger Hilfe haben als in der Mindestsicherung.

Bürokratische Willkür

Aktuell rechnet Oberösterreich die Wohnbeihilfe auf die Leistungen der Sozialhilfe an, zieht sie also ab. Und die Zuverdienstgrenze wird mit dem Sozialhilfeausführungsgesetz praktisch abgeschafft. Das bedeutet, dass das Einkommen von Sozialhilfeempfängern, die tageweise etwa im Trödlerladen der Arge für Obdachlose mitarbeiten, zur Gänze vom Amt kassiert wird. In Niederösterreich wurde, entgegen allen Beteuerungen, die Bestimmung im Sozialhilfegesetz nicht umgesetzt, welche eine um bis zu 30 Prozent erhöhte Wohnkostenpauschale ermöglicht. Vom 40-prozentigen Wohnanteil wird weiters die Leistung aus der Wohnbauförderung abgezogen, was dazu führt, dass die hilfebedürftige Person weniger fürs Leben und weniger fürs Wohnen erhält. Außerdem haben die neuen gestaffelten Kinderrichtsätze zur Folge, dass Eltern mit mehr als einem Kind unter Kürzungen leiden. Weiters werden der bürokratischen Willkür am Amt Tür und Tor geöffnet: Es gibt keine dreimonatigen Entscheidungsfristen mehr, und schriftliche Bescheide müssen nicht mehr ausgestellt werden.

Keine Existenzsicherung

"Es fühlt sich an, als wolle man meine Familie wegschmeißen", hat es eine Mutter mit humanitärem Bleiberecht in Niederösterreich formuliert. Für sie gibt es überhaupt keine Existenzsicherung, auch keine Krankenversicherung mehr. Und das in Pandemiezeiten. Unter den Betroffenen finden sich auch viele schwerkranke und nichtarbeitsfähige Personen, die keine Möglichkeit haben, einer Arbeit nachzugehen und auch nicht von Verwandten oder Freunden mitunterstützt zu werden. Zudem wird das Grundsatzgesetz so verstanden, dass die Länder die so wichtigen "Hilfen in besonderen Lebenslagen" einstellen. Damit fällt jede Unterstützung weg.

Wie konnte es so weit kommen? Auf "die Flüchtlinge" zeigen die Regierenden, die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist wie bei Trickdieben: Es braucht immer einen, der ablenkt, damit dir der andere die Geldbörse aus der Tasche ziehen kann. Die "Ausländer" werden ins Spiel gebracht, weil sie sonst die Kürzungen nicht durchsetzen könnten. Keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderung, keinem Niedriglohnbezieher geht es jetzt besser. Im Gegenteil.

Alte Normalität

Die alte Normalität wird in der neuen umso mehr sichtbar. Wer vor Corona prekär gearbeitet hatte, konnte in den Wochen danach seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft kaum noch bestreiten. Betrachtet man also Gruppen, die schon letztes Jahr nicht mehr wussten, wie sie ihr Leben bestreiten sollen, stößt man auf prekäre Verhältnisse aus den Zeiten der Normalität von vorher. Deswegen dürfen wir soziale Verwerfungen und Armut auch nicht "covidisieren". Heißt: Was gegen Armut vor Corona geholfen hat, hilft auch jetzt gegen Armut.

Eine gute Mindestsicherung ist besser als eine schlechte Sozialhilfe, verfügbare Therapien, leistbares Wohnen oder gute Schulen für alle helfen jetzt wie davor. Was gegen die Schere zwischen Arm und Reich vor Corona erfolgreich war, ist es auch jetzt. Die soziale Ungleichheit wird in und nach Wirtschaftskrisen in der Regel viel größer. Wie die Kosten der Krise verteilt werden, entscheidet über mehr oder weniger Armut in den nächsten Jahren.

Der Normsturz dient dazu, die Festigkeit eines Kletterseils zu messen. Fünf Abstürze muss es mindestens aushalten, sonst taugt das Seil nicht zum Schutz. Die sozialen Probleme werden größer. Und die schlechte Sozialhilfe kann sie nicht lösen. Sie würde den Normsturz nicht bestehen. Instrumente der Mindestsicherung sind für Krisen gemacht. Das ist ihre Bewährungsprobe. Wenn ein Regenschirm nicht den Regen abhält, wenn das Kletterseil nicht den Sturz abfängt, wenn der Bretterboden nicht stabil vor dem dunklen Keller schützt – wenn also Sozialhilfe gerade in der Krise nichts taugt, dann hat sie ihre Aufgabe verfehlt.

Armutsbetroffene wie Sarah werden oft als "sozial schwach" bezeichnet. Das ist eine Beleidigung. Sozial schwach sind diejenigen, die den Armen aus der Armut helfen könnten, es aber nicht tun. (Martin Schenk, 18.11.2020)