Tacktack, krrrrr, tacktack. Ein stämmiger Mann mit Schnauzer fährt über den Zebrastreifen. Sein Rad klappert und knarzt. Jonas*, blaue Steppjacke, grellgelbe Weste, leichter Flaum, schreckt kurz hoch. Er ist Schülerlotse vor einer Volksschule im zweiten Bezirk. "Nichts zu tun", sagt der Bursche und zuckt mit den Schultern. "Höchstens zwei Prozent der Schüler sind heute da", fachsimpelt er. Irgendwo zwitschert ein Vogel, eine Frau wischt ein Fenster, man hört sie Putzmittel sprühen – Dienstag, acht Uhr, Rushhour in der Großstadt.
In der Taborstraße klopft ein Bauarbeiter Putz von der Wand. Man hört jeden Stoß. Ein paar Menschen laufen an ihm vorbei. Das Spielzeuggeschäft: dunkel; der Comic- und Schmuddelfilmladen: zu; die Drogerie: verriegelt. Ist Wien ausgestorben? Nein. Aber es ist ein bisschen so, wie wenn man auf Urlaub fährt und für einen Flug das Haus früher verlässt als sonst: Eigentlich ist alles wie immer, nur völlig verschlafen – Österreich ist im zweiten Lockdown angekommen.
Erst Hölle, dann Meditation
Im Museumsquartier sind die Enzis quer aufgestellt, sodass man nicht darauf sitzen kann. Die trockenen Blätter der Bäume rascheln im Wind, in der Ferne heult ein Automotor auf. "Gestern war ums Eck in der Mariahilfer Straße die Hölle los", sagt Christoph*, Immobilienmakler, der hier oft spaziert. "Heute ist es fast meditativ, richtig angenehm."
Er hat recht. Normalerweise liegt über Wien dieser undefinierbare Soundteppich: Baustellen, Autos, Gesprächsfetzen, Sirenen. Das alles ist noch da, aber deutlich reduziert. Das Grundrauschen fehlt. Man könnte sagen: Im Lockdown kann man die Stadt endlich hören.
Auf der Mahü, Wiens berühmtester Shoppingmeile, ist die Spur des Wahnsinns vom Vortag noch sichtbar. Tschickstummel und Zuckersackerln liegen auf der Straße, in den Auslagen hängen die Zettel: "Minus 50 Prozent auf alles." Die Unternehmer wollten noch ein letztes Mal Kunden anlocken, bevor das Land kollektiv herunterfährt. Nicht ganz 6000 Neuinfektionen und 443.465 Arbeitslose verzeichnet Österreich am Tag darauf.
Anders als damals
Vor einem Laster mit Hebebühne stehen mehrere Pressefotografen. An den Straßenlaternen wird die Weihnachtsdekoration befestigt – in einer Einkaufsstraße ohne Einkaufsmöglichkeit. Zumindest bis 6. Dezember sind alle Läden bis auf die Grundversorger dicht. "Es ist nicht wie beim ersten Mal", sagt ein Mann mit Kamera. Er meint: Nicht so ausgestorben wie im Frühjahr. "Schon mehr Leute, trotzdem spooky." Eine Joggerin läuft an ihm vorbei. Man hört jeden ihrer Schritte.
Auch auf dem Land hat sich der Klang des Alltags verändert. Im Tiroler Absam fällt die Stille im Dorf vor allem am Morgen auf. Zur Stoßzeit, wenn normalerweise die Kinder zur Schule laufen, herrscht am Dienstag sonntägliche Ruhe. Selbst der Lkw-Zubringerverkehr zu den großen Unternehmen im Norden bleibt aus. Statt des dumpfen Grollens der Lastwagen hört man leise E-Bikes surren. Und auf dem Parkplatz vor dem Weg hinein ins Halltal stehen auffallend viele Autos für einen Wochentag im November.
Speckdiebe und Sperrzeiten
Absam selbst ist wie ausgestorben. Der kleine Gastgarten vor dem Supermarkt ist mit Absperrband als No-go-Zone ausgewiesen. Sonst treffen sich hier Pensionisten, Handwerker und Berufsschüler zum Kaffee oder auf eine Mittagsjause. Am Eingang der Marienbasilika wurde eine Tafel angeschlagen: derzeit nur "private Gottesdienste", maximal zehn Personen.
Hans Unterkircher betreibt im Ort einen Hofladen. "Während des ersten Lockdowns haben wir das sehr gespürt, plötzlich kamen viel mehr Menschen", erzählt der Bauer. Über den Sommer ging die Nachfrage zurück, jetzt hofft er wieder auf mehr Geschäft. Im Frühjahr hatte Unterkircher seinen Laden – ein Kammerl im Stallgebäude – rund um die Uhr geöffnet. Seit einem nächtlichen Diebstahl sämtlicher Wurst- und Speckwaren sperrt er abends ab, wie er sagt: "Außerdem, habe ich mittlerweile gelernt, müssen auch wir während des Lockdowns um 19 Uhr schließen."
Rolltreppe steht still, die Miete an
Im Wiener Stadion Center steht Wolfgang neben einer Werbefahne vor seinem mit Metallvorhang geschlossenen Beisl. "Mach mal Pause", lautet der Schriftzug. Gemeint ist: mit einem Bier in seinem Lokal. "Es ist beschissen", sagt Wolfgang, Maske, Jeans, wache Augen. Die Kriterien für staatliche Hilfen erfülle er nicht. "Ich weiß nicht, wie ich die Miete und Löhne zahlen soll." In Kurzarbeit sind seine Mitarbeiter bereits. Er biete jetzt seinen Mittagstisch to go an. "Irgendwas muss man ja tun."
Die Rolltreppe, die nach oben zu seinem Lokal führt, steht still. Um ihn herum hat bis auf den Drogeriemarkt alles geschlossen. Weihnachtsdeko baumelt von der Decke, nur manche der Lichter leuchten, die Gänge sind leer. "So fangen Zombie-Filme an", sagt der STANDARD-Fotograf. Eine Frau mit Rollwagerl biegt um die Ecke. "Hoffentlich wird das mit den Zahlen bald besser", sagt sie. "Schon schlimm." Im Einkaufszentrum läuft heute keine Musik.
Mahnender Babyelefant
In der Innenstadt, vor dem Naturhistorischen Museum, steht ein eiserner Babyelefant. Er stand da, schon lange bevor das neuartige Coronavirus in Umlauf kam – jetzt wirkt er fast mahnend. Daneben tanzt einsam ein junger Mann in bunter Kleidung zu lauter Musik in der Morgensonne.
Etwas weiter hinten sitzen zwei Frauen auf einer Parkbank, sie kommen gerade von einer Kundgebung vor dem Parlament. "Die Schulschließungen sind eine Sauerei für Frauen, weil die das jetzt ausbaden", sagt eine der beiden. "Und das Gesundheitssystem kämpft seit zehn Jahren um mehr Personal." Sie ärgern sich über die Regierung mehr als über Corona.
Unweit bei einer der U-Bahn-Stationen erklärt ein Mann, dass er jetzt einfach froh sei, wenn in den Öffis weniger los sei. Er lässt ein paar Münzen in einen Zigarettenautomaten fallen. Klack, klack, klack. Er steht an einer Hauptverkehrsstraße – und man kann jede einzelne landen hören. (Katharina Mittelstaedt, Steffen Arora, 17.11.2020)