Jogi Löw (li) auf verlorenem Posten.

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Fußball-Deutschland hat noch am Abend der historischen 0:6-Niederlage des DFB-Teams zum Abschluss der Nations-League-Gruppenphase gegen Spanien mit der Aufarbeitung begonnen. Die höchste Länderspiel-Niederlage einer deutschen Elf seit dem 0:6 gegen Österreich im Jahr 1931 hat deutliche Spuren hinterlassen und nicht zuletzt die Kritik an Bundestrainer Joachim Löw nach dem völlig verpatzten Jahresabschluss neu befeuert, zumal der Weltmeister von 2014 in Sevilla völlig von der Rolle war.

Als es zum vierten Mal hinter ihm eingeschlagen hatte, verlor Manuel Neuer in seinem denkwürdigen Rekordspiel die Contenance. Im Sitzen schlug der deutsche Nationaltorhüter mit der rechten Hand heftig gegen den Pfosten, sein vulgärer Kraftausdruck ("F.....") war bis in die Wohnzimmer zu hören. Und seine Vorderleute? Die ließen die Schultern hängen und schauten beschämt zu Boden.

"Wer ist hier der Boss?"

Kein einziger Feldspieler stemmte sich erkennbar gegen die historische Schmach, weder sportlich noch emotional. Wer ist hier der Boss? Das fragte sich auch ein entsetzter Bastian Schweinsteiger. "Haben wir einen Spieler wie Sergio Ramos in den eigenen Reihen, der der Anführer ist?", sagte der ARD-Experte zur Halbzeit, als sich das Debakel schon abzeichnete: "Wer macht das jetzt für die deutsche Nationalmannschaft? Wer geht da voran?"

Niemand – so lautete die erschütternde Antwort nach 90 demütigenden Minuten. Am unscheinbaren Toni Kroos konnte sich niemand aufrichten, der als Abwehrchef auserkorene Niklas Süle war heillos überfordert, auch der zuletzt bärenstarke Leon Goretzka tauchte ab. Joshua Kimmich, der als emotionaler Leader das Team hätte aufrütteln können, saß verletzt zu Hause vor dem Fernseher.

Grobe Mängel

"Toni Kroos, Anführer – nicht zu sehen. Hinten keiner, der die Mannschaft organisiert hat. Vorne keiner, der Kommandos gegeben hat", sagte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bei Sky. Die fehlende Organisation und Kommunikation seien "tödlich" gewesen, gab Löw zu. Da der Bundestrainer selbst mit seiner Körpersprache Ratlosigkeit und Resignation vorlebte, fehlte der Impuls von außen.

Die neue Chef-Debatte, die indirekt auch mit der heiß diskutierten Frage nach einer Rückkehr des Weltmeister-Trios Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng zusammenhängt, heizte ausgerechnet Schweinsteiger als Allererster an. Der ehemalige DFB-Kapitän und Weltmeister von 2014 zeigte am ARD-Mikrofon deutlich mehr Feuer als so mancher Spieler auf dem Platz.

"Ich nehme die Spieler in die Pflicht, da muss mehr kommen. Gerade die, die schon länger dabei sind, müssen das Heft in die Hand nehmen", forderte Schweinsteiger: "Bis zur Europameisterschaft ist nicht so viel Zeit. Vielleicht können wir bis dahin diese Werte irgendwie in die Spieler reinbringen, um dann solche Ergebnisse zu vermeiden."

"Rabenschwarzer Tag"

Löw konstatierte einen "rabenschwarzen" Tag. "Es war ein Abend, an dem uns gar nichts gelungen ist. Deswegen sind wir riesig enttäuscht und sauer. Es hat überhaupt nichts funktioniert. Da kann man niemanden ausnehmen. Wir waren in den Zweikämpfen nicht auf dem Platz. Nach dem 0:1 haben wir unsere Linie und Organisation aufgegeben. Wir haben Räume geöffnet und sind nach vorne gestürzt. Das haben die Spanier gnadenlos ausgenutzt. Wir hatten keinen Zugriff, kein Zweikampfverhalten", beklagte der 60-Jährige.

Für Deutschland bleibt nun jede Menge Zeit, die Blamage zu verarbeiten, weil das Team erst im März wieder zusammenkommt. Löw will das Match in den nächsten Tagen mit dem Trainerstab aufarbeiten. "Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen. Wir dachten, dass wir schon weiter sind. Wir müssen jetzt schauen, was wir tun können und was der richtige Weg ist."

Rückenstärkung

Grundsätzlich wollte Löw aber nicht alles schlechtreden, was er 2020 gesehen hat. "Jetzt ein Fazit zu ziehen ist natürlich schwierig. Wir haben eine herbe Niederlage einstecken müssen, die es so lange nicht mehr gab. Das ist für uns bitter. Ich habe vorher aber gute Ansätze gesehen. Ich habe Vertrauen in die Spieler."

Das Personal und die Spielphilosophie müsse man nicht komplett über den Haufen werfen. Löw zweifle nicht an den Spielern und ihrem grundsätzlichen Können. "Sie haben ihre Qualitäten. Heute haben wir müde gewirkt, wir haben schwerfällig gewirkt. Wir waren immer einen Schritt zu langsam." Man habe in schmerzlicher Form hinnehmen müssen, dass es Rückschläge gibt. "Es ist aber keine Qualitätsfrage."

Ob etwa die Rückkehr von Hummels, Müller und Boateng ein Thema ist, wollte Löw nicht klar beantworten, er wolle die Situation zum richtigen Zeitpunkt bewerten. "Das Vertrauen in die Spieler ist jetzt nicht völlig erschüttert. Wir müssen die richtigen Schlüsse ziehen", sagte Löw, der aktuell nicht abschätzen kann, ob er Bundestrainer bleibt. "Da müssen Sie andere fragen. Das kann ich so spontan nicht beantworten."

Manuel Neuers Appelle erzielten nicht die erhoffte Wirkung.
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Bereits vor dem Match hatte sich Kapitän Manuel Neuer positiv über eine mögliche Rückkehr der aussortierten Weltmeister Müller, Hummels und Boateng geäußert. "Ich will nicht einen der drei Genannten hervorheben: Alle Spieler könnten uns grundsätzlich helfen, das haben sie ja oft genug bewiesen", sagte Neuer in einem Interview mit der "Sport Bild".

Während dem Match dirigierte, brüllte und stauchte Neuer seine Vordermänner zusammen, doch es half alles nichts. "Für ihn ist es sehr schwer, das aus der Ferne zu organisieren", sagte Schweinsteiger:

In der DFB-Elf machte der 34-Jährige, der gegen Spanien mit seinem 96. Einsatz zum deutschen Rekordnationaltorhüter aufstieg, seit dem Umbruch das Fehlen von Sicherheit und Abläufen aus. Nach "sehr guten Phasen" leiste sich die Mannschaft "dann aber auch wieder Ausreißer nach unten", so Neuer. Man müsse sich den Respekt zurückerarbeiten, der früher immer da gewesen sei: "Die breite Brust muss zurückkommen, die Selbstsicherheit." (sid, red, 18.11.2020)

Die höchsten Niederlagen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft:

1. 0:9 (gegen England in Oxford, 13. März 1909)

2. 0:6 (gegen Österreich in Berlin, 24. Mai 1931)

2. 0:6 (gegen Spanien in Sevilla, Nations League, 17. November 2020)

4. 3:8 (gegen Ungarn in Basel, WM-Gruppenphase, 20. Juni 1954)

5. 0:5 (gegen Österreich in Wien, 13. September 1931)