Im Gastkommentar erläutert der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik, warum die rot-pinke Koalition in Wien auch ein Erfolg für die Grünen ist. Wenngleich ein schmerzhafter.

Im Oktober erreichten die Wiener Grünen ihr bisher bestes Wahlergebnis. Im Klub blieb die Spitzenkandidatin und Parteichefin Birgit Hebein nun dennoch ohne Funktion.
Foto: Matthias Cremer

Oberflächlich betrachtet setzt es für die Wiener Grünen seit dem Wahltag im Oktober eine Niederlage nach der anderen: Erst entscheidet sich die SPÖ für rot-pinke Koalitionsverhandlungen anstatt rot-grüner, dann fällt die amtierende Parteivorsitzende beim eigenen Rathausklub durch, und zu guter Letzt präsentieren SPÖ und Neos auch noch ein Regierungsprogramm, mit dem sie eifrig im grünen Wählerpool fischen können.

"Das SPÖ-Neos-Programm ist sogar noch um einiges Grünen-kompatibler als das türkis-grüne Übereinkommen im Bund."

Misserfolg auf allen Linien also? Mitnichten. Eher ein Anlass für politische Beobachter, zu überdenken, welche Maßstäbe für politischen Erfolg und Misserfolg wir anlegen. Ja, der Machtverlust schmerzt die Betroffenen zweifellos. Karriereoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten erfahren einen gehörigen Dämpfer. Aber wenn die rot-pinke Regierungsarbeit hält, was das Koalitionsabkommen verspricht, dann können die Grünen damit nicht ganz unglücklich sein.

Inhaltlich ist das SPÖ-Neos-Programm mit den Schwerpunkten städtische Investitionen, Bildung, Klimaschutz, Wohnen und Transparenz sogar noch um einiges Grünen-kompatibler als das türkis-grüne Übereinkommen im Bund. Und gerade im Umwelt- und Verkehrsbereich würde dieses Regierungsübereinkommen ohne den Einfluss der Grünen auf die Stadtpolitik der letzten zehn Jahre anders aussehen. Wenn also das eigene Programm von der Konkurrenz übernommen und umgesetzt wird, muss man das letzten Endes als politischen Erfolg werten.

Kein Totalausfall

Zu einer ähnlichen Diagnose kommt man im Übrigen, wenn man auf die Bundesebene wechselt und dort den Zustand der FPÖ betrachtet. Die Partei ist Mitte 2019 hochkant aus der Regierung geflogen, wurde dann vor einem Jahr von den Wählern stark zurechtgestutzt, unterbietet dieses Niveau in derzeitigen Umfragen noch und leidet zu allem Überdruss an ungeklärten Führungsfragen.

Ist die FPÖ damit ein politischer Totalausfall? Wohl kaum. Als einer der größten Erfolge in der Geschichte der Freiheitlichen muss gelten, dass die zentralen Elemente ihres Programms von der ÖVP unter Sebastian Kurz fast eins zu eins übernommen worden sind. Seit dem Antritt der türkis-grünen Bundesregierung wissen wir auch, dass diese inhaltliche Angleichung nicht allein der Koalition mit der FPÖ geschuldet war. Vielmehr macht die Volkspartei FPÖ-Politik auch ohne die FPÖ als Regierungspartner.

Mittel zum Zweck

Um nicht missverstanden zu werden: Ja, Wahlerfolge und das Erlangen von Regierungsämtern sind zentrale Ziele für politische Parteien. Nicht zuletzt sehen das die in den Parteien handelnden Akteure so: Was nutzt es der eigenen Karriere, wenn andere "meine" Politik machen, ich dafür aber Ämter und Stimmen verliere? Dieses individuelle Interessenkalkül ist nicht nur nachvollziehbar, es zu verstehen ist auch notwendig, um das Verhalten politischer Eliten erklären zu können. Dennoch: Als politische Beobachter können – ja: sollen – wir uns den Luxus leisten, die Wahl- und Karriereambitionen der Politiker aus unserer Bewertung dessen, was politischen Erfolg und Misserfolg darstellt, zumindest teilweise auszuklammern.

Stimmen aus dem Forum: Wie beurteilen Sie Hebeins Demontage?

Viel zu oft zäumen wir das Pferd in der politischen Analyse nämlich von hinten auf: Erfolgreich ist, wer Wahlen gewinnt. So schrumpft Politikanalyse zur Analyse von Wahlstrategien. Dabei strebt niemand in der Politik nach Wählerstimmen um ihrer selbst willen. Wählerstimmen können immer nur Mittel zum Zweck sein – nämlich um politische Ämter einzunehmen oder Programme umzusetzen. Ersteres ist vorrangig für die betroffenen Personen von (Eigen-)Interesse, Letzteres hingegen ist von Interesse für die Allgemeinheit.

Nachhaltige Maßnahmen

Für die journalistische (und wissenschaftliche) Analyse von Politik heißt das, dass wir zuweilen unsere Denklogik umdrehen müssen: Die Frage, wie sich ein politisches Vorhaben auf die Zustimmungswerte einer Regierung auswirkt, ist nicht per se uninteressant, wesentlicher ist aber, wie Parteien ihr aus Wahlen gewonnenes politisches Kapital in substanzielle Maßnahmen umsetzen. Die Grünen in Wien und die FPÖ im Bund zeigen, dass man dafür nicht einmal selbst an der Regierung sein muss. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 19.11.2020)