Verliert langsam seine Gelassenheit: Emmanuel Macron.

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Ist die Covid-Krise schuld, dass Monsieur le Président derzeit eher gereizt wirkt? Nein, die Ursachen liegen tiefer: Es geht um die Brexit-bedingte Gewichtsverlagerung in Europa, um das Ende der Trump-Ära und der europäischen Geschlossenheit – und wie immer um eine gehörige Portion französischer Eigenwilligkeit.

Den Stein ins Rollen brachte – wohl ungewollt – die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, als sie von den "Illusionen einer europäischen strategischen Unabhängigkeit" sprach. Damit wollte sie die Bedeutung des amerikanischen Schutzschirms für Europa herauszustreichen, und Macron hätte sich nicht betroffen fühlen müssen.

Er tat es aber: Auf selten unwirsche Art ließ er verlauten, er teile diese Ansicht "ganz und gar nicht" – sie stelle eine "Fehlinterpretation der Geschichte" dar, denn in Wahrheit laufe alles auf eine stärkere sicherheitspolitische Autonomie des Alten Kontinents heraus. "Zum Glück" liege Kanzlerin Angela Merkel nicht auf dieser Linie, mutmaßte Macron, um anzufügen, der Regierungswechsel in Washington veranlasse die Europäer, "ruhig und entspannt" über den Aufbau einer europäischen Verteidigung nachzudenken.

Diesbezügliche Differenzen zwischen Paris und Berlin sind nicht neu: Während Deutschland die Nordatlantikallianz für prioritär und unerlässlich ansieht, hat Macron die Nato schon mal als "hirntot" bezeichnet. Nicht zuletzt mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU sieht er Frankreichs kontinentalen Führungsanspruch – vorzugsweise mit den deutschen Freunden, aber notfalls auch ohne – bestätigt.

Kramp-Karrenbauer legte am Dienstag nach, die US-Armee decke 75 Prozent des Verteidigungsaufwands Europas ab. Macrons Ärger rührt indessen nicht nur von dieser Erkenntnis her – vielmehr beginnt er zu realisieren, dass die Geschlossenheit der EU-Schwergewichte nach der Trump-Ära auf eine neue Probe gestellt wird.

Umstrittener Schulden-Pool und Freihandel

Auch sonst blieb Macron in seinem Grundsatzinterview für das neue geopolitische Magazin "Le Grand Continent" weder ruhig noch entspannt. Offensiv äußerte er sich zu dem für Deutschland heiklen Thema der Schuldenunion in der EU: "Erstmals haben wir entschieden, uns gemeinsam zu verschulden, das heißt, eine Transferunion zu haben, die auf einer gemeinsamen Unterschrift und einer gemeinsamen Verschuldung beruht." Dass Berlin seine Zustimmung nur zu einer einmaligen Kreditaufnahme in harten Corona-Zeiten gegeben hatte, überging der Präsident geflissentlich.

Auch die handelspolitischen Differenzen dürften bald wieder aufbrechen: Wenngleich Paris und Berlin betonen, sie verfolgten in Sachen EU-Mercosur-Abkommen den gleichen kritischen Kurs, bleibt Frankreich viel reservierter, was seine generelle Haltung zum weltweiten Freihandel und zu transatlantischen Abkommen betrifft.

Laizismus und "Charlie Hebdo"

Geradezu empört reagiert Macron auf angelsächsische Kritik an der französischen Islam- und Integrationspolitik. Neuer Anlass ist das – durch die Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty neu entfachte – Reizthema der Mohammed-Karikaturen. Die Londoner "Financial Times" warf Macron vor, er spalte sein Land mit seiner "Kriegserklärung gegen den islamischen Separatismus" nur weiter. Darauf griff der französische Präsident selbst zur Feder, um den Briten das französische Laizismusverständnis mit der scharfen Trennung von Kirche und Staat zu erklären. Nun brachten aber auch die "Washington Post" und die "New York Times" Artikel mit dem Kerninhalt, Frankreich grenze – etwa mit dem Kopftuchverbot – die Muslime im Land aus, was Wasser auf die Mühlen der Salafisten sei.

Nun griff Macron nicht nur zur Feder, sondern gleich zum Telefon: Den Verantwortlichen des Meinungsbeitrags rügte er, die "Gewalt zu legitimieren" – gemeint war: gegen Karikaturisten und Lehrer. Bitter beklagte sich der französische Präsident, dass die angelsächsischen Medien seinen Kampf gegen den "islamistischen" Vormarsch nicht verstünden.

In New York geben allerdings nicht Macrons Sachargumente zu denken, sondern seine Zurechtweisung des zuständigen Journalisten – der Letztere auch sofort publik gemacht hatte. Solche Rügen kennt man sonst eher in Paris, wo Chefredakteure regelmäßig Anrufe kritisierter Politiker erhalten. Sie zeugen nicht unbedingt von Respekt gegenüber jener absoluten Pressefreiheit, die Macron für "Charlie Hebdo" in Anspruch nimmt.

Auch in Paris tauchen Fragen auf, warum sich der Präsident mit Partnern anlege, statt sich auf seine Konflikte mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu konzentrieren. Die Zeitung "Le Monde" warnt Macron vorsichtig, seine Diplomatie stoße langsam "an Grenzen", nicht zuletzt, weil er zunehmend außen- mit wahlpolitischen Belangen verwechsle. Und vielleicht, so könnte man anfügen, Freunde mit Gegnern. (Stefan Brändle aus Paris, 19.11.2020)