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Schnell werden Neodiabetiker feststellen, dass es einen Unterschied macht, ob man zur Gruppe Diabetes Typ 1 oder Typ 2 zählt. "Während Typ-1-Diabetes als Autoimmunerkrankung und damit als schicksalhaft wahrgenommen wird, wird der Typ-2-Diabetes meist als Folge von Disziplinmangel und geringer Selbstbeherrschung, also als selbstverschuldet, wahrgenommen", erklärt der Mediziner und Psychotherapeut Christian Tatschl das grundlegende Problem. Das heißt: Wer zu viel isst und zu wenig Sport macht, ist selbst verantwortlich.

Tatschl hat sich auf die psychischen Folgen von Adipositas und Diabetes Typ 2 spezialisiert und kann klar sagen: "Gewichtskontrolle und körperliche Aktivität unterliegen eben nicht ausschließlich der willentlichen Kontrolle. Genetische, psychische und umweltbezogene Faktoren spielen auch bei Typ 2 eine erhebliche Rolle."

Mitverschulden suggerieren

Trotzdem: Das Problem bleibt bestehen. Sogar medizinisches Fachpersonal neigt zu Vorurteilen: Sind Diabetiker erst einmal in Behandlung, wird Menschen mit Übergewicht und Diabetes Typ 2 oft mangelnde Therapietreue unterstellt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum eine große Umfrage in den USA zeigte, dass ein erheblicher Anteil der Menschen mit Typ-1-Diabetes Stigmatisierung durch die Verwechslung und Assoziation ihrer Erkrankung mit Typ-2-Diabetes erlebt. Tatsächlich wünschten sich 19 Prozent der Erwachsenen bzw. Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes eine Umbenennung der Erkrankung, um eine Abgrenzung von Typ-2-Diabetes zu erreichen.

Die seltsame Konkurrenz zwischen den Gruppen besteht auch noch auf anderer Ebene: Typ-1-Patienten wollen nicht mit Typ-2-Patienten verglichen werden und meinen oft, diese seien nicht so diszipliniert und sportlich wie erforderlich. Typ-2-Patienten wiederum sind oft stolz darauf, kein Insulin zu brauchen, ordnen die insulinpflichtigen Typ-1-Patienten in die Nähe von Junkies ein. Ein großes Problem für übergewichtige Typ-2-Diabetiker ist auch, dass sie aufgefordert sind, weniger zu essen, was psychisch eine große Herausforderung darstellt. Viele Typ-1-Diabetiker kennen diese Essensbeschränkungen nicht, im Gegenteil, sie verzehren oft große Portionen, und aus diesem Missverhältnis entsteht eine Art Neid, weil bei den Typ-2-Diabetikern eine dauerhafte Ernährungsumstellung Verzicht auf eine Reihe von Lebensmitteln erfordert.

Stärken als Strategie

Die Situation ist bis zu einem gewissen Grad ein Dilemma, denn an sich sollten sich Menschen mit Diabetes gegenseitig stärken. Wie dringend das notwendig ist, zeigt eine Schweizer Studie, in der die Stigmatisierung von Diabeteskranken untersucht worden ist. Abgefragt wurde, inwiefern Menschen mit Diabetes gesellschaftlich betrachtet mit negativen Merkmalen charakterisiert werden und damit sozial diskriminiert sind.

Falsches Image

Von den 3347 befragten Diabetespatienten gab nur ein knappes Drittel an, dass sie noch nie wegen ihrer Erkrankung ungleich behandelt worden waren. Etwas mehr als zwei Drittel haben negative Erfahrungen gemacht, vor allem dann, wenn sie sich in der Öffentlichkeit, Insulin spritzen mussten. 55 Prozent wurden dabei "komisch angeschaut".

Zudem dürfte es auch ein Imageproblem bei der Erkrankung geben, und zwar jenes, Menschen mit Diabetes seien alt, übergewichtig und deshalb zuckerkrank. Dieses Bild bestätigten 48 Prozent der in der Studie befragten. 43 Prozent gaben an, dass ihr Umfeld die Erkrankung als etwas "Schreckliches" einstuft bzw. dass Menschen mit Diabetes in ihrer Leistung beeinträchtigt gesehen werden. Und 40 Prozent aller Befragten wird unterstellt, dass sie an ihrer Zuckerkrankheit selbst schuld seien.

Stigmatisierung einer Erkrankung ist in keinem Fall förderlich. Sie beeinträchtigt nicht nur emotionale und soziale Aspekte des Lebens, sie hat auch einen negativen Einfluss auf das Management der Erkrankung. Wer Diabetes hat, weiß, dass Disziplin dabei eine tragende Rolle spielt. Vor allem Frauen mit Typ-1-Diabetes sehen sich in ihrem emotionalen Leben durch diabetesbezogene Stigmatisierung beeinträchtigt: 42 Prozent der weiblichen Befragten mit Typ-1-Diabetes leiden an Gefühlen wie Schuld, Scham, Kritik, Peinlichkeit oder Isolation. Mit 30 Prozent bei Männern scheint die emotionale Auswirkung bei Typ-1-Diabetes und Menschen mit Typ-2-Diabetes weniger ausgeprägt zu sein.

Stigmatisierung aushalten

Das Sozialleben empfand mehr als jeder vierte Studienteilnehmer als beeinträchtigt (Typ-1-Diabetes 22 bis 26 Prozent, Typ-2-Diabetes 23 bis 30 Prozent). Sowohl Personen mit Typ-1-Diabetes (17 Prozent) als auch Personen mit Typ-2-Diabetes (22 Prozent) gaben an, dass das Diabetesstigma negativen Einfluss auf das Diabetesmanagement hat, insbesondere Frauen mit Typ-2-Diabetes.

Interessant ist auch die Frage, was diese Art von Stigmatisierung mit den Betroffenen macht: Viele ziehen sich aus der Gesellschaft zurück und nehmen zunehmend weniger am sozialen Leben teil, wenn sie sich dort nicht gut aufgehoben fühlen. Auch Ärger, Aggression oder Leugnen der Erkrankung können die Folgen sein.

Worum es also in Zukunft ebenso gehen muss, ist ein gut verbreitetes Allgemeinwissen über Diabetes. Und da herrscht Nachholbedarf. 66 Prozent der Allgemeinbevölkerung (davon 56 Prozent der Angehörigen der Gesundheitsberufe) denken, dass die Erkrankung durch einen gesunden Lebensstil völlig zur Heilung gebracht werden kann, und 80 Prozent glauben immer noch, dass Adipositas eine Erkrankung ist, die sich durch gesunden Lebensstil völlig vermieden bzw. sogar ganz geheilt werden könne. (Peter Hopfinger, 25.11.2020)