Den Alltag im Überblick: Essenszeiten, Bewegung, Stimmungsschwankungen – all diese Informationen zählen bei einer guten Therapie

Foto: mySugr

Das stylische Loft in der Wiener Innenstadt erinnert mehr an innovative Start-ups im Silicon Valley als an einen Gesundheitsdienstleister. Hochmoderne Aufenthaltsräume im Industrie-Chic, offene Arbeitsbereiche, wohin das Auge blickt, Couchlandschaften, Gesprächskabinen aus Holz, eine Terrasse mit Blick über die Dächer der City: MySugr ist eine österreichische Start-up-Erfolgsgeschichte, die als Entwickler einer Rundum-Service-App für Diabetiker den digitalen Wandel der Gesundheitsindustrie maßgeblich beeinflusst hat.

Zu Beginn wollte man eigentlich nur eine App entwickeln, die es Diabetikern leichter macht, ihren Blutzuckerspiegel im Blick zu behalten, erzählt Michael Forisch, Chief Compliance Officer und einer der vier MySugr-Gründer. Denn das Leben mit Diabetes ist nicht einfach. Und Diabetes-Management noch viel schwieriger. Wann soll man was und wie viel davon essen? Und bin ich morgens deshalb so schlecht gelaunt, weil mein Blutzuckerspiegel im Keller ist? Zu viel Zucker ist schlecht, zu wenig ebenso. Oft fällt es schwer, da den Überblick zu behalten.

Alltag erfassen

Das Digital-Health-Start-up MySugr schafft mit einem digitalen Tagebuch Abhilfe. Denn: "Diabetes ist eine datengetriebene Erkrankung", erklärt Michael Forisch. Früher hat man ganz klassisch Papiertagebuch geführt und beim Arztbesuch vorgelegt. Abweichungen können so besprochen und Therapien optimiert werden. "Diabetes ist ein Vollzeitjob und erfordert viel Aufmerksamkeit. Konstant Tagebuch zu führen ist nicht immer einfach", weiß Forisch. "Im Trubel des Alltags werden oftmals Dinge vergessen – oder das Tagebuch ist gerade nicht greifbar."

Das digitale Tagebuch funktioniert sehr einfach. Die meisten haben das Smartphone immer dabei. Suchfunktionen, automatische Datenübertragungen von beispielsweise Blutzuckermessgeräten oder auch Visualisierungen machen die Organisation leichter. Die Idee zum digitalen Diabetestagebuch entstand 2010. Im Jahr darauf konnte der erste Prototyp gebaut und das Unternehmen MySugr von Frank Westermann, Gerald Stangl, Michael Forisch und Fredrik Debong gegründet werden. Zwei der Gründer waren damals selbst von der Krankheit betroffen und kannten die Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer.

Erfolgreicher Exit

"An sich lässt sich das Start-up-Business ja am besten mit Tiefseetauchen vergleichen", sagt er. Nach jedem Entwicklungsschritt sei man gleich wieder auf der Suche nach neuen Finanzspritzen. Mit jeder Sauerstoffflasche Geld wird auch eine Uhr mitgeliefert, "die zeigt, wie lange es reicht". "Und jedes Fundraising, jede Geldspritze reicht immer gerade bis zum nächsten Entwicklungsschritt", erzählt der 44-Jährige. Man muss also auch laufend im Auge behalten, wie man zu neuen Partnern kommt. "Mit Roche haben wir jemanden gefunden, der uns so genommen hat, wie wir sind. Wir haben von Anfang an die gleiche Vision verfolgt, Menschen mit Diabetes in ihrem Alltag eine Erleichterung zu bieten", sagt Forisch und meint den Verkauf an den Schweizer Pharmakonzern 2017. Verkaufssumme: den Gerüchten zufolge 200 Millionen Euro.

Heute hat die Plattform zwei Millionen registrierte Nutzer in 78 Ländern, das Angebot wird in 24 Sprachen angeboten und von 200 Mitarbeitern vorangetrieben. Zehn Prozent der Mitarbeiter sind selbst Diabetiker. Die USA und Deutschland sind dabei die Schwerpunktmärkte. "MySugr wird vor allem in den USA gern verwendet. Aber auch in Europa findet die App Anklang, vor allem in Deutschland", erklärt Forisch. Er ist mittlerweile der Einzige, der aus dem Gründungsteam noch erhalten geblieben ist.

Therapie optimieren

Sowohl Typ I als auch Typ-II-Diabetiker stehen mehrmals am Tag vor wichtigen Entscheidungsmomenten: Esse ich jetzt etwas? Kann ich Sport machen? Muss ich Insulin spritzen? Wie viel Insulin möchte ich spritzen? Wie viele Kohlenhydrate oder Broteinheiten habe ich gegessen? Und wie geht es meiner Gefühlswelt? Bin ich entspannt, gestresst? Für all diese Entscheidungen sind bestimmte Parameter ausschlaggebend. "Hier versuchen wir mit MySugr Unterstützung zu bieten", erklärt Forisch.

Denn vor allem die Nachvollziehbarkeit ist bei der Therapie dieser Krankheit essenziell. Je detaillierter ein Protokoll geführt wird, je mehr Befindlichkeiten oder körperliche Reaktionen dokumentiert sind, desto besser können Ärzte Muster herauslesen. Eine automatische Synchronisation von Messgeräten, Tagebuch und Ernährungsprotokoll macht das Leben mit Diabetes für Betroffene sehr viel leichter und ermöglicht auch Ärzten eine konstante, schnellere Kontrolle der Patientenwerte. "Die MySugr-App erstellt beispielsweise Graphen, die der Arzt übereinanderlegen und Muster so besser erkennen kann", erklärt der Informatiker. Damit lässt sich beispielsweise auch ein schwankender Blutzuckerspiegel besser nachvollziehen und das Verhalten des Patienten aufgrund der Empfehlung besser optimieren.

Sichere Daten

Für die meisten Diabetiker ist nämlich gerade das ständige Protokollieren die größte Herausforderung. Forisch: "Das kostet Kraft. Diabetes ist oft auch mit vielen Emotionen verbunden. Oftmals möchte die Erkrankung einfach auch einmal vergessen werden." MySugr versucht deshalb gezielt auch die Kunden hinsichtlich der Therapie bei der Stange zu halten. Belohnungskomponenten und spielerische Elemente funktionieren da sehr gut. Jeder Eintrag wird belohnt. "So ist es auch wichtig, dass der Nutzer für sich festhält, wann es ihm gerade nicht so gut geht. Es hilft ihm, sich selbst besser zu verstehen."

Forisch betont im Namen von MySugr, dass personenbezogene Daten ausschließlich als Gesundheitsdaten behandelt werden. "Wir erheben diese ausschließlich für den therapeutischen Zweck", betont er. Und nimmt damit Bezug auf die öffentliche Debatte rund um Großkonzerne wie Google oder Facebook. "Es ist für uns ein Privileg, die Zustimmung unserer Nutzer zu erhalten, ihre Daten für ihr tägliches Therapiemanagement zu verarbeiten. Für uns kommen Datendeals nicht infrage." Deshalb sei ihr Produkt ja auch nicht kostenlos.

Digitale Zukunft

Im Zuge der Pandemie habe die digitalisierte Medizin in Österreich jedenfalls einen ziemlichen Schub bekommen. "Spätestens seit man weiß, dass die digitale Krankschreibung und digitale Rezepte auf Knopfdruck eingesetzt werden konnten, kann man den Patienten nur noch schwer erklären, warum sie sich beispielsweise für ein neues Rezept für Teststreifen auf den Weg zum Arzt machen müssen", betont Forisch. Auf die Frage, warum es seiner Einschätzung nach so lange gebraucht hat, um diese digitalisierte Form auch hierzulande einzusetzen, lautet seine ehrliche Antwort: Jetzt sei "die Katze sozusagen aus dem Sack. Wenn das jetzt wieder abgeschafft wird, trifft das sicherlich auf wenig Verständnis." Digitalisierung sei ja unweigerlich die Zukunft.

Zwei Millionen registrierte Nutzer rund um den Globus zählt das Diabetesportal MySugr. Sie alle führen täglich in der App Protokoll und verbessern damit ihre Blutzuckereinstellung. (Julia Palmai, 24.11.2020)