Das Recht auf Bildung darf im Corona-Lockdown nicht vom Goodwill der Schule abhängen, sagt Gottfried Schweiger vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg im Gastkommentar.

Lernen im Lockdown.
Foto: APA / Erwin Scheriau

Am 20. November ist der internationale Tag der Kinderrechte. Das Chaos um die Schließungen der Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen, die gar keine Schließungen sind, zeigt, wie wenig Kinderrechte in der Realpolitik wert sind. Das sollte nicht hingenommen werden.

Artikel 28 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die auch in Österreich ratifiziert wurde, legt fest, dass Kinder ein universelles Recht auf Bildung haben. Das ist ein zentrales Recht, da Bildung so etwas wie eine Superfähigkeit ist, die viele andere Freiheiten, Wissen, Können und Chancen überhaupt erst ermöglicht. Nicht nur in Wissensgesellschaften wie der unsrigen – aber besonders in solchen – ist Bildung für den weiteren Lebensweg entscheidend. Das wissen alle Bildungs- und Arbeitsmarktexpertinnen und -experten, und das betonen auch alle Politikerinnen und Politiker immer wieder. Bildung sollte nicht auf Ausbildung verkürzt werden, auch unsere Demokratie funktioniert nur mit gebildeten und reflektierten Bürgerinnen und Bürgern.

Verbummelte Monate

Das Recht auf Bildung ist wie viele Kinderrechte zeitsensibel. Das Recht auf Bildung hat in gewisser Weise ein Ablaufdatum. Bildungsrückstände und frühe Bildungsverluste können später nur schwer, manchmal gar nicht mehr aufgeholt werden. Es gehört zum Kindsein, dass in kurzer Zeit viel neues Wissen und neue Fertigkeiten erworben und erprobt werden. Der Verlust von einem oder von zwei Semestern mag im Leben eines Erwachsenen eine kurze Zeitspanne sein, für den Bildungsweg eines Kindes ist es eine lange Zeit.

Die Schließungen von Einrichtungen zur Betreuung der Kinder sind aus dieser Sicht besonders problematisch. Sie nehmen den Kindern ihre Bildungschancen und setzen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer unter Druck. Natürlich sind während einer Pandemie Abwägungen zwischen verschiedenen Rechten und auch den Rechten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen nötig. Es kann durchaus sein, dass die Schließung von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen notwendig ist, um die Pandemie einzudämmen. Die Evidenz dafür ist aber reichlich dünn.

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Ein echter Skandal ist aber, dass die letzten Monate verbummelt wurden – und wie nun mit dem Recht auf Bildung umgegangen wird. Im März 2020 konnte man noch von einer Überraschung sprechen, die Notmaßnahmen und Improvisation erforderlich gemacht hat. Im November 2020 gilt diese Ausrede nicht mehr. Schulschließungen waren als Option immer in die Planungen miteinzubeziehen. Wie kann es sein, dass die technische Infrastruktur in den Schulen nicht so ist, dass Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen, Lehrer Online-Learning überhaupt sinnvoll machen können? Während Milliarden in die Wirtschaft gepumpt wurden, gab es anscheinend nicht einmal ein paar Millionen, um die Schulen dafür fit zu machen.

Schwammige Regelungen

Dazu kommt nun die Chuzpe um die Kommunikation der Schulschließungen, die keine sind, weil sie keine sein dürfen. Das Recht auf Bildung gilt für alle Kinder. Es darf hier keine Rolle spielen, ob es eine engagierte Lehrerin oder Direktorin gibt. Wenn man nun hört und liest, dass manche Schulen Kinder vor Ort nur betreuen, aber dort nichts gelernt wird, während anderswo Kinder weiterhin gut in ihrer Bildung unterstützt werden, dann geht das so nicht.

Wenn die Bildung einem etwas wert wäre, dann würde man bei medizinischer Notwendigkeit der Schließung der Schulen und Kindergärten natürlich auch die Eltern freistellen, damit diese ihre Kinder beim Online-Learning unterstützen können. Anders geht es bei jüngeren Kindern und allen, die mehr Unterstützung brauchen, einfach nicht. Stattdessen gibt es schwammige Formulierungen, Chaos und Verunsicherung und ein für viele Kinder verlorenes Semester. Natürlich schaffen es manche gut, ja sogar sehr gut, manche Eltern und Kinder tun sich leichter – aber das Recht auf Bildung kann von sozioökonomischen Faktoren genauso wenig abhängen wie vom Goodwill der Schule. Wo sind die Investitionen und Innovationen, um Schülerinnen und Schüler aus bildungsarmen Familien bestmöglich zu unterstützen?

Keine Verwahrungsboxen

Welche Kollateralschäden die Schließung der sozialen Lern- und Interaktionsorte Schule und Kindergarten mit sich bringen wird, sollte ebenso stärker berücksichtigt werden, anstatt nur den Fokus prüfbares Wissen zu haben. Von der Mitbestimmung durch die Kinder und der Berücksichtigung ihrer Wünsche in all diesen Entscheidungen, die übrigens auch kinderrechtlich in Artikel 12 der Konvention festgeschrieben ist, gar nicht zu reden. Und dass Kindergärten in Österreich noch immer von vielen in der Politik und anderswo als Verwahrungsboxen für Kinder von berufstätigen Müttern, die sich dem traditionellen Bild der guten Hausfrau und Mutter nicht beugen wollen oder können, angesehen werden und nicht als wichtige Bildungseinrichtungen, spricht ebenso Bände. (Gottfried Schweiger, 20.11.2020)