Lebensbejahende Kraft: Brita Steinwendtner.

Foto: Peter Ableidinger

Nach dem Krieg ist das Leben ein anderes, wenn es denn überhaupt noch eines ist. Im Sommer 1866 ziehen drei junge Männer unter Trommel- und Trompetenklängen begeistert in den Krieg, eigentlich sind sie Heeresmusiker, aber im Kampf, im "Inferno von Kugeln, Schrapnells und Granaten", spielt das keine Rolle.

Nur einer von ihnen, der Trompeter Johannes, wird überleben; schwer verwundet, mit entstelltem, "zerfetztem" Gesicht, kehrt er nach Hause zurück und wird von nun an für immer "gezeichnet" bleiben.

Der Roman Gesicht im blinden Spiegel beschreibt einen vorgegebenen und doch ganz eigenständigen Entwicklungsweg. Er beginnt mit der politisch so folgenschweren Schlacht von Königgrätz und endet 50 Jahre später in der ausweglosen Situation des Ersten Weltkriegs.

Keine Frage, dass der Friedensgedanke zentrales Thema ist, entsprechend taucht irgendwann auch Bertha von Suttners pazifistisches Engagement gegen den "Irrwitz des Tötens" auf, wenn auch nur ein leiser und vergeblicher Versuch.

Aber Brita Steinwendtner geht es um mehr. Sie zeichnet vor dem Hintergrund der zu Ende gehenden Habsburgermonarchie, wachsender Nationalitätenkonflikte und tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche mit der Figur des Johannes Czermak ein Schicksal, das nicht bloß für das Ende einer Epoche steht, sondern in erster Linie nach dem individuellen Wert des Lebens fragt, denn auf den Schlachtfeldern bleibt immer "etwas" zurück, "das einmal ein Mensch war".

Pulsierende Vielfalt

"Dieses Stück Mensch" also: ein junger Mann, dessen Gesicht zerstört wurde, dem fortan Teile von Kinn und Wange fehlen. "Ein Krüppel (...). Unnütz, ungeliebt, eine Spottfigur." Wie soll der noch erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können?

Genau dieses vorgezeichnete Schicksal dreht Steinwendtner um, sie stattet ihren Helden mit so viel lebensbejahender Kraft aus, dass er weder an der körperlichen noch an der seelischen Verwundung zerbricht, sondern lernt, mit den Defiziten zu leben. Im Ergebnis ist das ein Bildungsroman im besten Sinn, denn der Leser bekommt vor Augen geführt, wie jemand trotz schwerwiegender Beeinträchtigung sein Leben meistert.

Brita Steinwendtner hat sich dafür die kleine Welt im Nordosten Böhmens ausgesucht, nicht weit von Königgrätz entfernt: Neustadt an der Mettau, auf Tschechisch Nové Mìsto nad Metují, wo man Deutsch, Tschechisch, Polnisch, Jiddisch spricht und jene kulturelle Vielfalt pulsiert, die zu Ende des 19. Jahrhunderts bereits brüchig wird.

So gut klingt Heimat

Johannes ist in dieser Vielfalt zu Hause, die Familie ist ebenso deutsch wie tschechisch orientiert. Nach dem Trauma des Krieges beginnt der ehemalige Gymnasiast eine Lehre als Kunstschmied. Handwerkliche Fertigkeiten, kaufmännisches Geschick und künstlerische Begabung zeichnen ihn aus.

Nachdem das Trompetenspiel aufgrund seiner Verletzung nicht mehr möglich ist, entdeckt Johannes für sich das Cello, und er interessiert sich für Literatur und ist sogar Abonnent der Fackel. Das gibt ihm Halt wie Familie und Zuhause, eine Landschaft, die fast in Stifter’schem Wohlsinn das "Böhmische Paradies" genannt wird – so gut klingt Heimat, und sie steht auch modellhaft für jenes Mitteleuropa, das ethnisch und atmosphärisch verschwinden wird.

Genau dieses Atmosphärische versucht Steinwendtner zu bewahren. Denn Heimat ist nicht ein Ort, den Johannes zurücklässt, als er später in die Fremde zieht. Ganz zuletzt finden wir ihn in Venedig, wo Johannes’ Neffe Antonin als Musiker lebt und wo sich sehr spät das Glück des Lebens erfüllen könnte.

Würde und Lebenssinn

Aber da hat gerade wieder ein Krieg begonnen und ist der Satz, der am Beginn des Romans steht, schon wieder verhallt: "Wenn du aufwachen wirst, wirst du wissen, was das bedeutet: Frieden."

Gesicht im blinden Spiegel ist eine entschiedene Absage an Nationalismus und Völkerhass, ein Gegenentwurf zu den verhängnisvollen Zeitströmen. Was diesen Roman aber so anziehend macht, ist die Zuwendung der Autorin zu ihrem Helden, denn Johannes, der zu einem Leben im Verzicht gezwungen wird, ist eine Figur, die man gern haben muss – nicht nur weil er seine Würde bewahrt, sondern weil er einen Lebenssinn findet.

So schließt sich um das Ganze ein leiser, vergeblicher Widerstand gegen das Kommende, das sich nicht aufhalten lässt, so wenig wie damit die Welt verbessert werden kann. Und doch sind Bildung und Kunst das einzige Gegenprogramm zum Gewöhnlichen des Lebens.

Hier zeigt sich, auch in der Form, ein kleiner Rückgriff auf den Poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts: Steinwendtners Roman, das möge bitte nicht als altmodisch empfunden werden, ist wie eine Stifter’sche Erzählung, in der der Einzelne vom Schicksal gebeutelt wird, sich gegen das Schicksal aber nicht auflehnt, sondern mit ihm umzugehen lernt, bis sich alles in ein Idealbild vom Leben fügt, das in der Wirklichkeit wohl kaum begegnet. In der Literatur kann es so sein. (Gerhard Zeillinger, 22.11.2020)