Candice Carty-Williams (31) ist wie ihre Hauptfigur jamaikanischer Abstammung.

Foto: Lily Richards

"Könnten Sie mit Ihrem Po auf der Liege bitte gaaanz nach vorn rutschen?" Schon der Einstieg hat es in sich. Wir lernen die 25-jährige Queenie kennen, als sie beim Gynäkologen auf dem Untersuchungsstuhl sitzt. Sie bekommt gerade so etwas wie den "am wenigsten ergonomischen Dildo der Welt" eingeführt. Um sich von dem "Rumgestocher in meinen Innereien" abzulenken, checkt sie nebenbei ganz gelassen Whatsapp. Wir befinden uns mitten in einer Untersuchung, ob die Spirale auch richtig sitzt. Das tut sie, aber etwas anderes stimmt nicht: Die Ärztin vermutet eine Fehlgeburt. Doch nicht die ist es, die Queenie auf den nächsten 500 Seiten aus der Bahn wirft.

Heftiger noch als das, was in der ersten Szene geschieht, ist, wie die Autorin Candice Carty-Williams es erzählt. Ihr Roman Queenie ist laut, schillernd, bunt, schamlos, etwas trashig und unter dieser grellen Oberfläche zugleich sehr nachdenklich. Als erste schwarze Autorin hat die 31-Jährige dafür heuer bei den British Book Awards die Auszeichnung für das "Buch des Jahres" gewonnen. Für eine sechsstellige Summe waren im Vorfeld seines Erscheinens die Rechte an dem Debüt an einen Verlag versteigert worden, inzwischen arbeitet Carty-Williams an einer Adaption als Fernsehserie. Sie dürfte ein Hit werden.

Emotional verschlossen

Wie eine solche lässt sich schon jetzt das Buch Seite um Seite weglesen. Mit rasendem Tempo stößt die Autorin die Leser in eine Welt, in der Queenie, Enkelin jamaikanischer Einwanderer, gerade von ihrem Freund Tom verlassen worden ist. Als Erste aus ihrer Familie hat sie studiert und arbeitet in unwichtiger Position bei einer Londoner Zeitung. Verlassen wird sie, weil sie sich Tom emotional nicht öffnen kann. Das liegt daran, dass sie wegen ihres Stiefvaters eine schwierige Kindheit hatte. Auch die Beziehung zur Mutter ist zerrüttet.

Ohne Halt sackt Queenie immer weiter ab, wird in der Arbeit nachlässig, hat viel und meist entwürdigenden und ungeschützten Sex mit fremden Männern, alten Bekannten und verheirateten Arbeitskollegen. Wenn sie sich danach, um sich auf Geschlechtskrankheiten testen zu lassen, ins Krankenhaus begibt, glaubt man dort wegen der blauen Flecken vom Sex, sie wurde vergewaltigt. Immerhin habe "Ihre ethnische Gruppe ein höheres Risiko für missbräuchliche Beziehungen".

Rassismus in vielen Formen

Und damit wären wir beim Themenkreis Alltags- und struktureller Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und Klischees, dem Leitmotiv des Buchs. Queenie zeigt die Probleme einer jungen Frau im London dieser Tage zwischen schlecht bezahlten Jobs, hohen Wohnungspreisen und Sexismus – verschärft um den Faktor, dass ihre Hautfarbe dunkel ist und sie sich nicht immer angenommen fühlt, obwohl sie in London geboren wurde.

Auf Partys wird Queenie immer der einzigen anderen schwarzen Person im Raum vorgestellt. Auf Tinder wird sie von den Männern zum "Schokomädchen" erklärt und auf ihre Hautfarbe reduziert. Dass die Typen beim Sex gröber sind, weil sie schwarz ist, scheint unabweisbar.

Nur vermeintlich harmloser sind da humorvoll gemeinte Scherze der Ex-Schwiegerfamilie über dunkle Haut wie "Milchkaffee". Wegen der Gentrifizierung ist aus der Bäckerei in dem karibischen Viertel, in dem Queenie und ihre Großmutter früher eingekauft haben, ein Boboladen für Weiße geworden. Als sie einen Artikel über die Black-Lives-Matter-Bewegung schreiben will, haben die alten weißen Redakteure kein Verständnis. Und, und, und. Mal fühlt man sich beim Lesen nur beklommen, mal wird einem richtig schlecht.

Ganz in der Gegenwart

Queenie surft ganz oben auf der Zeitgeistwelle, verbindet Schlagworte wie "intersektionaler Feminismus" mit hippem Neusprech wie "cringig". Dabei spannt Carty-Williams ein auf Anhieb sehr sympathisches und ausuferndes Universum an Figuren auf: die karibischen Großeltern, die sich zu einem Häuschen hochgearbeitet haben, die Studienfreundin aus besserem Hause, die Schulfreundin ugandischer Abstammung aus einem sozial benachteiligten Viertel, die sich von ihrem Kassiererinnenlohn lieber Designerkleider und einen großen Fernseher kauft, als zu sparen, weil sie aufgrund rassistischer Kriterien bei der Vergabe von Krediten ohnehin nie eine Chance haben wird, sich eine Wohnung zu erwerben.

So ernst das Anliegen ist, mit so viel Witz geht das Buch damit um. Queenie stößt einen mitten hinein in eine brennende Thematik und ist nebenbei wie gemacht für den Lockdown: Die so schrillen wie schrulligen Figuren können einem den Kontakt mit anderen für einige Zeit locker ersetzen. (Michael Wurmitzer, 21.11.2020)