Oma muss es wieder richten: Glenn Close gibt in Ron Howards "Hillbilly Elegy" das wild fluchende, aber auch fordernde Familienoberhaupt, das dem Enkel den sozialen Aufstieg mitermöglicht.

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Nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, begab sich die verunsicherte Nation auf Motivsuche für diesen Triumph. Vor allem die weiße, abgehängte Bevölkerung des Rust Belt, der Industrieregion im Nordosten, wurde zum Forschungsobjekt, viel war vom Wegbrechen der Arbeiterklasse die Rede, und einer, der vom rauen Aufwachsen in der Provinz aus erster Hand zu berichten verstand, war J. D. Vance.

Aufgewachsen in den Appalachen von Kentucky und im Südwesten von Ohio, gelang es ihm als einem von wenigen, aus seinem Herkunftsmilieu, dieser "Achse des Elends", auszuscheren und in der Eliteuniversität Yale zu studieren. Vance’ Erinnerungen (er ist jetzt 34 Jahre alt) wurden zum landesweiten Bestseller – und zum Phänomen: Denn Hillbilly Elegy vermochte beiden Lagern, rechts wie links, schlüssige Deutungsmodelle anzubieten. Die demokratische Seite sah ihre Vorbehalte gegenüber der Arbeiterklasse bestätigt, die noch Essensmarken für billigen Alkohol verhökerte, während die Rechte sich an Vance’ nichtsdestotrotz unbeugsamem Ethos aufrichten konnte.

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Dass Hillbilly Elegy jetzt als prominente Netflix-Produktion wiederkehrt, zeigt, dass das Dilemma des depravierten US-Heartland weiter akut ist. Daran ändert Trumps (uneingestandene) Niederlage nichts, schließlich gewann auch er Stimmen hinzu. Ohio galt nicht einmal mehr als echter Swing-State. Die Kluft ist enorm. Doch Ron Howards Verfilmung liefert kaum Anknüpfungspunkte dafür, wie sich das Land therapieren ließe.

Politisch handzahm

Das ist für einen Spielfilm, der an pseudolinksliberalem Hollywoodpopulismus krankt, wohl auch zu viel verlangt. Umgekehrt ist die innere Hemmschwelle des Films, ein Milieu genauer, also auch politischer zu betrachten, schon wieder bezeichnend für den Stand der Dinge. Die kritischen Punkte in Vance’ Rückblick, in denen er die fehlende Arbeitsmoral seiner Leute oder deren Ausnutzung von Wohlfahrtsprogrammen beklagt, werden hier weitgehend ausgespart.

Stattdessen bekommt man Glenn Close als Hillbilly-Großmutter Mamaw, die wie das verlorene Mitglied der Golden Girls mit angeklebter Mentholtschick Kurs in Richtung Oscar-Nominierung nimmt. Okay, ihre Performance ist zeitweise komisch, vor allem wenn sie durch zentimeterdicke Brillengläser den kleinen, etwas dicklichen J. D. (Owen Asztalos) drohend anstiert und ungeniert flucht. Und doch fühlt man sich als Zuschauer nicht sehr wohl dabei, einer Schauspielerin dieser Liga bei einem solchen Unterklassenstunt zuzusehen.

Soziale Distinktionen

Schablonenhaft, aber treffsicherer sind die Bilder, mit denen Hillbilly Elegy die sozialen Kontraste zum elitären Juristenzirkel in Yale zeichnet, die später J. D.s (nunmehr Gabriel Basso) Außenseitertum – und damit seine Skepsis gegenüber den Institutionen – erklären helfen. Bei einem Dinner treibt ihm die Besteckvielfalt Schweißperlen auf die Stirn. Spöttische Bemerkungen über seine Herkunft lässt er von den Schnöseln aber keine zu. Hier wird ein Zusammenspiel aus Scham und Stolz sichtbar, das Unterschiede verfestigt.

Eine größere Sensibilität für die Überheblichkeit bestimmter Blickweisen hätte dem Film auch an anderer Stelle gutgetan. Howard inszeniert die Konflikte der Familie grobschlächtig, jede Großaufnahme ist ein Ausrufezeichen. Vor allem Amy Adams wird als Beverly, die Mutter von J. D., wie eine Kugel im Flipperautomaten durch den Film geschleudert. Aber es gibt kaum ein Bild dafür, wer diesen bedient. Ihre Drogenabhängigkeit erscheint nur wie die logische Summe aus Selbsthass und Erniedrigung.

Einmal wird sie im Auto nach einer Bemerkung über ihre Unbeständigkeit so wütend, dass sie sich und ihren Sohn beinahe in den Tod fährt. Trotzdem streckt sie immer wieder hilfesuchend ihre Hand nach J. D. aus – ein Bild für den Abwärtssog der eigenen Klasse, das mehrmals wiederkehrt, obwohl es schon beim ersten Mal eindeutig ist.

Kein Anti-Unterschichten-Genre

Das Hillbilly-Subgenre ist aber nicht per se gegen die eigene Klasse gerichtet, auch wenn der Begriff ursprünglich abwertend ist. In Phil Hoffmans Junebug (2005), der der jungen Amy Adams zum Durchbruch verhalf, werden die Unterschiede zwischen den beiden Amerikas subtil aufgefächert. In Coal Miner’s Daughter (1980), einem Klassiker, singt sich die vierfache Mutter Loretta Lynn (Sissy Spacek) zum Country-Music-Star hoch, ohne ihrem Milieu den Rücken zu kehren.

Rechtschaffenheit überwiegt dagegen in Hillbilly Elegy. Die Wiederbegegnung mit der Blue-Collar-Herkunft ist nur für eine Persönlichkeitskrise gut. Man muss sich ablösen, ohne sich selbst zu verleugnen. Zu helfen ist den einmal Abgehängten eigentlich nicht. (Dominik Kamalzadeh, 21.11.2020)