Die neue Wiener Koalition sei eine "Fortschreibungskoalition" rot-grüner Vorhaben mit rosaroter Schleife, kritisiert die Grüne Judith Pühringer im Gastkommentar.

Punschkrapfen sind rosarot (und braun). Aber rot sind sie nicht. Eine Punschkrapfenkoalition ist rosarot. Aber rot ist sie nicht. Im Regierungsprogramm von SPÖ und Neos sind nur wenige sozialdemokratische Zutaten verarbeitet. Aber dafür umso mehr Ideologie der Liberalen.

· These eins Die Neos werden diese Regierung ideologisch prägen – ausgerechnet in früheren Kernbereichen der SPÖ. Ein Beispiel: Die Bildung ist die Allzweckzange im Werkzeugkoffer der Liberalen. Egal, welches gesellschaftliche Problem – die Bildung muss es richten. Liest sich ja gut, auf den ersten Blick: Erhöhen wir die Chancen des und der Einzelnen durch mehr Bildung! Dann sind alle fit für den "Markt", dann liegt es an ihnen, ob sie im "Wettbewerb" mithalten können. In der Präambel heißt es: "Wir machen Bildung zur Startrampe für ein erfülltes Leben." Schön und gut. Aber wo sind die großen Schritte für jene, die es trotzdem schwerhaben? Die Schwierigkeiten haben? Oder einfach kein Glück?

Ursprünglich waren Punschkrapfen ein beliebtes Rezept für die Verwertung von altem Biskuit. Ob das die Neo-Koalitionäre beim Anbandeln wussten, ist nicht bekannt.
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Ausgeblendete Realitäten

Der Glaube an die Bildung als Allheilmittel unterscheidet vielleicht die Neos von ihrer konservativen Ursuppe, der ÖVP, aber dieser Glaube blendet all die Realitäten aus, die Neoliberale so gern ignorieren: soziale Ungleichheit und Armut, Sexismus, Rassismus, Ausgrenzung und Macht- und Finanzeliten, die sich abkapseln. Kurz: eine Gesellschaft, in der niemand mehr durch Arbeit reich werden kann, sondern allenfalls durch Erbschaft.

Die freie Entfaltung des und der Einzelnen ist ein humanistisches Ideal, aber ohne ein linkes, soziales und solidarisches Gegengewicht wird der Gedanke pervertiert: zur Fiktion vom "Aufstieg durch Leistung", von "Integration durch Leistung" und der Idee, dass jede und jeder seines bzw. ihres Glückes Schmied sei.

"Bildung ist im Neoliberalismus ein zentraler Baustein der Verwertungslogik für die Wirtschaft."

Bildung ist im Neoliberalismus ein zentraler Baustein der Verwertungslogik für die Wirtschaft: "Streng dich an, bemüh’ dich, dann wird alles funktionieren!" (Vor allem der Einstieg in den Arbeitsmarkt!) Und wenn es nicht klappt, dann liegt es eben an dir allein. Da trifft sich der Neos-Liberalismus fatal mit dem Sozialpaternalismus der Wiener SPÖ, der es mittlerweile immer mehr um "Employability" geht; also das Zurechtschleifen des und der Einzelnen für den Arbeitsmarkt.

· These zwei Wie jetzt, hat sich also doch die Kleinpartei gegen den Muskelprotz SPÖ Wien, dessen Firmen und Subfirmen in den letzten Winkel der Stadt reichen, durchgesetzt? Jein. Machtpolitisch hat die SPÖ nichts an Kraft eingebüßt. Aber eine ideologisch blutleere SPÖ hat keine Antikörper gegen neoliberale Ideen.

Dazu passt auch der Name des Projektes: Fortschrittskoalition. Fortschritt, das war ein zentraler Begriff für die Sozialdemokratie in den 80ern; just zu Zeiten der bisher letzten sozialliberalen Koalition also: SPÖ-FPÖ 1983–1987. Und ungefähr dort dürfte auch die SPÖ ideologisch stehengeblieben sein, dort, wo aus sozialdemokratischen Gestalterinnen und Gestaltern sozialdemokratische Verwalterinnen und Verwalter geworden sind.

Möglichst "effizient"

Wenn in Hinblick auf die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen und Gütern im Koalitionsabkommen vom "Eigentümer Staat" die Rede ist, dann erinnert das an eine Phase der europäischen Sozialdemokratie und ihren "dritten Weg" und damit verbunden ein betriebswirtschaftliches (Miss-)Verständnis eines Sozialstaates. Im Vordergrund steht nicht mehr, dass möglichst vielen und vor allem denen mit den niedrigsten Chancen geholfen wird – zum Beispiel am Arbeitsmarkt. Sondern: Möglichst wenig darf es kosten, möglichst "effizient" muss es sein.

· These drei Und trotzdem wird diese Koalition ein paar gute Dinge bewegen. Allerdings nicht als "Fortschrittskoalition", sondern als "Fortschreibungskoalition" rot-grüner Vorhaben, die jetzt eine rosarote Schleife bekommen. Da hat der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik recht, der an dieser Stelle argumentiert hat, man solle den grünen Erfolg auch daran bemessen, dass grüne Programme auch von der Konkurrenz umgesetzt werden.

Copy-Paste von Grünen-Papieren und das Übernehmen von Überschriften wird aber nicht ausreichen. Angesichts der großen Transformationen unserer Zeit und der großen Veränderungen, denen die Gesellschaft, der Arbeitsmarkt und mit dem Klima auch unsere Lebensgrundlagen an sich ausgesetzt sind, kann sich niemand ausruhen, weil die Zeit drängt: Die rot-grünen Projekte, die noch auf Schiene gebracht wurden und jetzt noch realisiert werden, die werden ganz sicher nicht ausreichen.

Die werden nicht reichen, um die Stadt für die Klimakrise zu rüsten. Und die werden schon gar nicht für die Menschen in dieser Stadt reichen, wenn es keinen grünen Koalitionspartner mehr gibt, der die SPÖ regelmäßig an die eigenen Wurzeln erinnert. Sie daran erinnert, dass es um soziale Gerechtigkeit geht. Und nicht nur um Chancengleichheit. Sie daran erinnert, dass "Leistung" im 21. Jahrhundert neu definiert werden muss. Sie daran erinnert, dass "Arbeit" neu gedacht werden muss und dass wir endlich Sorge- und Erwerbsarbeit gerecht verteilen müssen.

Wir werden deshalb in den kommenden Jahren wieder lauter sein. Wenn Rot-Rosarot nicht über soziale Gerechtigkeit redet – wir werden es tun. Wenn Rot-Rosarot nicht über soziale Menschenrechte redet – wir werden es tun. Wenn Rot-Rosarot keine neuen Ideen liefert, wie man die Stadt vor der Hitze und ihre Menschen vor Armut und sozialer Ausgrenzung und Beschämung schützen kann – wir haben sie. (Judith Pühringer, 21.11.2020)