Foto: MIT Press

2010 kuratierte das British Museum für die BBC die Hörfunkreihe "A History of the World in 100 Objects", die die menschliche Geschichte anhand prägender Gegenstände aus Kunst und Technologie nacherzählte; später wurde daraus eine Wanderausstellung. Der Brite Adrian Hon, der Neurowissenschaften studiert hat und dann zum Game-Designer geworden ist, fragte sich damals unwillkürlich, was wohl die nächsten 100 Objekte sein werden – also die, die unsere Zukunft beschreiben.

Et voilà, die Idee für sein Buch war geboren. Es trägt – natürlich – den Zusatz "A Fiction" im Untertitel, hält sich aber ganz an die Form eines Sachbuchs. Und die Fülle an verblüffenden, aber durchaus plausibel klingenden Ideen, die uns aus seinen Seiten entgegenströmt, ist ein großes intellektuelles Vergnügen, allerdings auch eine Herausforderung. Wer nicht routinemäßig Sachtexte auf Englisch liest, für den ist Hons Zukunftsgeschichte eher nichts, das sage ich hier sicherheitshalber gleich zu Beginn.

Automatisiertes Mitnicken in der Telekonferenz

Aufgezogen ist das Ganze an einem Kurator, der im Jahr 2082 durch ein Museum streift und die Geschichte des 21. Jahrhunderts Revue passieren lässt. Der Schwerpunkt liegt dabei übrigens auf der näheren Zukunft, vor allem auf den 2020er und 2030er Jahren. Was zugleich bedeutet, dass die gegenwärtigen Trends von Digitalisierung, Vernetzung und Smart-Technologien weitergeschrieben werden. Als wichtige Errungenschaften werden etwa Silent Messaging, eine subvokalisierende Kommunikationsform, oder Glyphisch genannt, ein umfangreiches Lexikon neuer Emoticons, die die Nuancen der Körpersprache wiedergeben. Nicht umsonst bilanziert der Kurator an einer Stelle das 21. Jahrhundert so: Software had eaten the world.

Eine Idee, die sich in unserem gegenwärtigen Alltag von Homeoffice und Telekonferenzen geradezu aufdrängt, sind die sogenannten Mimic Scripts. Die lassen ein virtuelles Abbild an der Konferenz teilnehmen, während man selbst inzwischen etwas Sinnvolles tun kann. Algorithmen sorgen dafür, dass dieses Ebenbild auch Interaktion vorgaukelt – etwa zustimmend nickt, wenn alle anderen auch nicken. In den meisten Fällen ist man ohnehin nicht gefragt, und wenn man doch mal um Input gebeten wird, dann holt einen das Mimic Script per Alarmruf schnell an den Computer zurück und überbrückt die Zeit mit einem Satz wie "Das ist eine gute Frage ...". O bitte, gebt uns diese Technologie schon heute!

Überraschende Umwidmungen

Doch Hon nennt nicht umsonst Ted Chiang als eines seiner Vorbilder, er denkt seine Ideen stets weiter. So lässt er die Mimic Scripts mit einer älteren Erfindung verschmelzen, einem beliebten Spielzeug: Speekys sind Teddybären, die sprechen können, weil ihnen zugeschaltete Schauspieler eine Stimme verleihen. Daraus wird ein boomendes Berufsfeld – und das wächst noch weiter, als sich immer mehr Menschen nicht mehr mit ihrem eigenen limitierten Ausdrucksrepertoire zufriedengeben, sondern ihr Mimic Script lieber von einem Schauspielprofi aufmöbeln lassen. Als optimierte Form der Selbstdarstellung lappen die Scripts so auch auf den privaten Alltag aus.

Anderes Beispiel für die Zweckentfremdung eines Objekts, die bei dessen Entwicklung nicht absehbar war: Aufgrund der Zunahme an Umweltkatastrophen wurde ein universales Survival Kit produziert, das nicht nur Notreserven enthält, sondern auch eine Netzwerkkomponente, um mit anderen Überlebenden und Rettungskräften Kontakt aufnehmen zu können. Dieses Kit wurde dann zum wichtigsten Instrument von Widerstandsbewegungen und aufständischen Gruppen, wie sich der Kurator erinnert. Denn Regierungen mögen zwar den herkömmlichen Internetzugang kontrollieren können – über die Survival Kits aber kann jederzeit ein alternatives Netzwerk aufgebaut werden.

Eine besondere Ironie hat die Idee, wie die stete Weiterentwicklung von Prothesen und körperlichen Augmentierungen dazu führt, dass die Olympischen Spiele allmählich zum Anhängsel der Paralympics degradiert werden. Denn hier, im einstigen Nebenwettbewerb, werden nun am laufenden Meter neue Rekorde aufgestellt, während die Leistungskraft von "Baseline"-Menschen längst ihren Plafond erreicht hat und kein Spektakel mehr bietet.

Wo bleiben die schwarzen Schwäne?

Black-Swan-Ereignisse sind des Futurologen Feind. Man kann sich zwar sicher sein, dass die Zukunft auch von umwälzenden Überraschungen wie Naturkatastrophen oder Terroranschlägen mitgeprägt werden wird – aber naturgemäß nicht, wie diese aussehen werden. Stellvertretend dafür lässt Adrian Hon eine Pilzkrankheit die großen Bananen-Monokulturen verwüsten. Die Züchtung einer resistenten Form gelingt zwar, dauert aber so lange, dass sich inzwischen die Ernährungsgewohnheiten geändert haben und kein Interesse mehr an einer Massenproduktion besteht. Die einstmals omnipräsente Frucht ist zu einem Luxusobjekt für ein paar wenige Exotik-Liebhaber geworden – ein Jammer, wie der Kurator anmerkt, während er genüsslich an einer Banane kaut.

In einem anderen Black-Swan-Ereignis leben wir gerade, dennoch ist Covid-19 hier kein Thema. Gut, die erste Version des Buchs ist 2013 unter dem Titel "A History of the Future in 100 Objects" erschienen. Aber für die Neuedition in diesem Jahr hat Hon seine Ideensammlung kräftig überarbeitet und eine Reihe von Objekten durch neue ersetzt. Dennoch wird die wachsende Gefahr von Pandemien hier nicht angesprochen, das ist schon etwas eigentümlich.

Was stiefmütterlich behandelt wird

Auch der Umweltbereich spielt nur eine untergeordnete Rolle. Einmal löst ein Geoengineering-Projekt, das den Klimawandel einbremsen soll, einen globalen Konflikt aus. Wir lesen auch vom Rück-Klonen ausgestorbener Tiere wie dem Beutelwolf oder dem Projekt "Half empty world", mit dem die Menschheit in urbanen Zonen konzentriert wird, damit der Rest der Erde wieder in den Naturzustand zurückkehren kann. Aber man merkt schon deutlich, dass Hon vor allem an neuen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung interessiert ist. Der "Rest" steht im Schatten dieses Schwerpunkts.

Als Science-Fiction-Fan der alten Schule blutet einem natürlich besonders das Herz, wenn auch alles Weltraumbezogene nur am Rande gestreift wird. Unter anderem lässt Hon das lange befürchtete Kessler-Syndrom im Jahr 2052 Wirklichkeit werden: Weltraummüll zerstört einen Satelliten, dessen Bruchstücke ihrerseits zu Geschossen werden, bis nach einer verheerenden Kaskade der Orbit ein Jahrzehnt lang eine unpassierbare Trümmerwolke bleibt. Und fast schon empörend ist, wie beiläufig im Schlusskapitel erwähnt wird, dass längst auf diversen Exoplaneten sowie auf Europa und dem Mars außerirdisches Leben entdeckt wurde. Aber vielleicht ist es ja auch nur eine romantische Vorstellung, dass eine solche Entdeckung die Menschheit stärker prägen würde als eine verbesserte Form von Twitter ...

Information Overload!

Vermutlich kennt jeder, der schon mal eine Ausstellung besucht hat, diesen Effekt: Bei den ersten Exponaten liest man noch ganz aufmerksam den Begleittext und nimmt sich vor, das bis zum Schluss durchzuhalten. Doch es kommen immer mehr und mehr und mehr, und irgendwann beginnt einem alles zu verschwimmen, die Konzentration sinkt. Das verhält sich mit diesem virtuellen Museumsrundgang, so interessant er auch ist, nicht anders. Ich würde daher dringend empfehlen, "A New History of the Future in 100 Objects" häppchenweise zu lesen.

Immerhin hat sich Hon einige Mühe gegeben, das Ganze nicht nur anspruchsvoll, sondern auch ansprechend zu gestalten. Zu den "Objekten" zählen nicht nur physische Gegenstände, sondern auch Interviews oder Zeitzeugenberichte, was die Form zwischendurch auflockert. Immer wieder blitzt Humor auf, und manchmal nähert sich Hon auch so weit wie möglich der Belletristik an. Kapitel bzw. Objekt 68 etwa, "The Old Drones", würde jederzeit als Kurzgeschichte durchgehen, und als eine poetische obendrein. Darin erzählt ein Mann in seinen Memoiren, wie er den Ort entdeckt hat, an den sich Flugdrohnen zum Sterben zurückziehen, wenn sich niemand die Mühe gemacht hat, sie zu recyceln. Und dass seine Großmutter letztlich doch recht damit hatte, darauf zu bestehen, dass er sich auch bei einer Drohne bedankt, wenn sie ihre Aufgabe getan hat.

Alles wird gut

Trotz bisweilen beklemmender Szenarien zieht sich eine unverkennbar optimistische Haltung durch das Buch. Und das ist auch gut so, denn wichtiger als die Frage, welche der hier beschriebenen Objekte in Zukunft vielleicht real werden könnten, ist die Grundbotschaft: Es wird zu großen Veränderungen kommen, das ist unvermeidlich. Mit Blick auf die ersten Vorstufen von Post- und Transhumanismus, die sich heute schon abzeichnen, bilanziert der fiktive Kurator, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert gewesen sei, in dem die Menschheit hinterfragen musste, was Menschsein bedeutet.

Und vor dieselbe Frage gestellt, vor der einst Adrian Hon stand – Was werden die nächsten 100 Objekte danach sein? –, sagt er ganz ohne Angst: The future remains as murky as it ever has. Yet we can be certain of one thing: the next century will not be ours. It will belong to our creations, and only if they understand our achievements and our tragedies in this most swift of centuries can we hope that they will improve the next.