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Hat heuer ein wenig länger als sonst gedauert, bis ich mein Lieblingsbuch des Jahres gefunden habe, aber zu guter Letzt ist es dann doch noch gekommen – und von eher unerwarteter Seite. Fantasy-Autorin Susanna Clarke landete 2004 mit "Jonathan Strange & Mr Norrell" einen Welterfolg, ehe sie schon bald danach weitestgehend von der Bildfläche verschwand; krankheitsbedingt. Ich habe den Roman nie gelesen, nur die darauf basierende TV-Serie gesehen (und ein wenig merkwürdig gefunden). "Piranesi" war daher für mich kein herbeigesehntes Comeback, sondern nur das Betreten von Neuland. Die vorab bekanntgegebene Prämisse klang aber so faszinierend ... wie der Roman dann auch tatsächlich geworden ist. Danke für dieses Buch!

Die Welt

Das Setting des Romans hat Kritiker unter anderem an Mervyn Peakes Klassiker "Gormenghast" erinnert, ist in seiner Konsequenz aber einzigartig: ein sich offenbar bis in die Unendlichkeit erstreckendes Gebäude, in dessen Palastfluchten sich an jeden Saal der nächste reiht. Ich-Erzähler Piranesi nennt es schlicht Die Welt. Ich bin entschlossen, so viel von Der Welt zu hinterforschen wie mir zu meinen Lebzeiten möglich ist. Zu diesem Zweck wanderte ich schon bis in den Achthundertneunzigsten Saal im Norden und den Siebenhundertachtundsechzigsten Saal im Süden. Ich stieg hinauf in die Oberen Säle, in denen Wolken langsam hintereinander herziehen und Statuen unvermittelt aus dem Dunst auftauchen. Ich erkundete die Versunkenen Säle, wo das dunkle Wasser von weißen Seerosen bedeckt ist.

Blickt man aus einem Fenster, sieht man nur Sonne, Mond und Sterne ... und einen Innenhof, hinter dem immer ein gegenüberliegender Flügel liegt. Ein Außen scheint es nicht zu geben. Dafür fegen Wind und Regen durch die oberste Ebene, während auf der untersten das Meer schwappt, aus dem sich Piranesi ernährt. Und alle Säle sind mit unzähligen Statuen geschmückt, von Menschen, Tieren oder Mischwesen. Man hat das Bild eines klassizistischen Palasts aus dem 18. oder 19. Jahrhundert im Kopf, dessen Räumlichkeiten sich ins Grenzenlose fortsetzen.

Der Eine und der Andere

In dieser Welt lebt Piranesi schon länger, als er sich erinnern kann, alleine. Oder fast: Da sind noch die Skelette von 13 Menschen, die hier auch einmal gewohnt haben müssen. Dass sie tot sind, spielt für Piranesi keine Rolle. Er sieht sie als seine Freunde, kümmert sich liebevoll um die Gebeine und evakuiert sie an einen sicheren Ort, wenn wieder einmal eine Flut das Meer in die höheren Stockwerke steigen lässt.

Und da ist noch Der Andere, den Piranesi ebenfalls als Freund betrachtet, auch wenn der ihn recht herablassend behandelt (was der naive Piranesi aber ohnehin nicht bemerkt). Der Andere ist offenbar auf der Suche nach irgendwelchem Geheimwissen, führt unverständliche Rituale durch und stellt Piranesi manchmal Fragen nach seiner Herkunft, die er nicht beantworten kann. Er ist es auch, der ihm seinen Namen gegeben hat – und zwar nach Giovanni Battista Piranesi, einem Architekten aus dem 18. Jahrhundert, der für seine fantastischen Zeichnungen berühmt wurde. Die Bedeutung dieses Scherzes bleibt Piranesi natürlich verborgen.

Und weil er sich nicht einmal vorstellen kann, dass es irgendetwas außerhalb der "Welt" geben könnte, erkennt Piranesi auch nicht, was uns Lesern recht früh dämmert: Nämlich dass Der Andere nur ab und zu hier ist, also einen Weg aus dem Gebäude kennt. Die Geschenke, die er Piranesi manchmal mitbringt, sind ein deutliches Indiz dafür, dass es da noch mehr geben muss. Wie auch der eine oder andere Name, der Piranesi durch den Sinn geht. Oder der Umstand, dass in seinem Tagebuch ganz vorne noch ganz normale Jahreszahlen eingetragen wurden, eher er die Zeitrechnung an Daten wie dem Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Säle kam, festmachte.

Das Rätsel

Im Kopf eines Genrelesers rattern natürlich die ganze Zeit über wie wild die Zahnräder, was es mit dem Rätsel hinter dem Gebäude auf sich haben mag. Wurde Piranesi hierher verbannt – und wenn ja, wann, von wem und warum? Ist es ein magischer Ort, oder handelt es sich womöglich gar nicht um einen Fantasy-, sondern um einen Science-Fiction-Roman, und wir befinden uns in einer virtuellen Welt? Oder ist es überhaupt kein physischer Ort und das Gebäude in Wahrheit eine Metapher für die Architektur von Piranesis Bewusstsein?

Reizvoll schien mir auch die Idee, dass Clarke mit ihrem Buch vielleicht auf die Umkehrung eines alten erzählerischen Klischees abzielte. Wie oft haben wir gelesen oder gesehen, wie die (gute oder böse) Hauptfigur einer Fantasyerzählung einen seltsamen Ort außerhalb der Hauptbühne aufsucht, um dort einen wichtigen Gegenstand zu bergen oder Wissen zu erlangen; nur eine Etappe auf ihrer eigentlichen Mission. Und wie sie auf einen wunderlichen Bewohner dieses Orts trifft, der mal zum Helferlein, mal zum Störfaktor wird oder einfach nur als humoristische Auflockerung dient. Der am Ende aber immer zurückgelassen wird und aus der Erzählung verschwindet, sobald er seine Funktion erfüllt hat. "Piranesi" könnte also auch die lange verdiente Umkehrung der Perspektive sein: Diesmal bleiben wir bei der vermeintlichen Randfigur, nachdem die Movers & Shakers weitergezogen sind; ihre welterschütternden Pläne sind für uns nicht von Belang.

Das Herz

So weit bliebe das Ganze ein rein intellektuelles Vergnügen. Dass der Roman aber viel mehr ist, dafür sorgt die Hauptfigur. Schon lange hat mich kein Protagonist mehr so für sich gewonnen wie Piranesi. Er ist eine durch und durch unschuldige Figur, und man müsste schon sehr zynisch veranlagt sein, um davon nicht gerührt zu sein. Piranesi kümmert sich um die Gebeine der Toten, hilft Vögeln beim Nesterbauen, kann sich überschwänglich über kleine Dinge freuen und sieht in allem stets das Gute. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, das Haus / Die Welt zu erforschen – aber nicht, um ihr ihr Geheimnis zu entreißen, sondern um sie in all ihrer Erhabenheit zu würdigen.

Man könnte ihn als schlichtes Gemüt abtun, wenn ihn sein magisches Weltbild dazu bringt, mit Statuen oder den Toten zu sprechen, Zeichen zu "erkennen", wo keine sind, und dafür verdächtige Indizien, die uns sofort auffallen, ein aufs andere Mal zu übersehen oder haarsträubend falsch zu interpretieren. Es müsste tragisch sein, allein: Piranesi wirkt glücklich. Die Welt fühlt sich vollständig und intakt an, und ich, ihr Kind, füge mich nahtlos in sie ein. – Fiebert man zunächst noch der Antwort entgegen, ob Piranesi jemals das Rätsel seiner Existenz lösen wird, so beginnt man sich später allmählich zu fragen, ob man ihm das überhaupt wünschen soll. Könnte es doch bedeuten, dass er diese Welt, mit der er so perfekt harmoniert, verlassen muss.

Die Rückkehr

Noch eine letzte Anmerkung: Ein Teil des Rätsels von "Piranesi" ist einem Faktor geschuldet, der außerhalb der Romanwelt liegt. Nach dem Sensationserfolg von "Jonathan Strange & Mr Norrell" begann Susanna Clarke am chronischen Erschöpfungssyndrom zu leiden, was dazu führte, dass sie sich immer weiter von der Welt zurückzog. Diese Erfahrung wollte sie in der Situation, in die sie ihren Romanhelden versetzt hatte, widerspiegeln. Als sich 2020 aber Corona-bedingt auch alle anderen in Isolation begeben mussten, hatte dies auf Clarke die paradoxe Wirkung, wieder an der Welt teilzuhaben, weil sie sich nicht mehr wie ein Sonderfall fühlte. Zur Wiederkehr hat sie uns dieses wunderbare Buch geschenkt.