Die Karikaturen der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" standen nicht nur am Ursprung der schweren Terrorwelle von 2015 und 2016.

Foto: imago images/Hans Lucas

Es sollte ein Prozess für die Nachwelt sein, eine bleibende Geschichtslektion über Meinungsfreiheit – und ihre Gefährdung: Siebzehn Menschen starben im Januar 2015 wegen ein paar frecher Karikaturen. Da auch die drei Hauptattentäter des Angriffs auf die Charlie Hebdo -Redaktion und den jüdischen Supermarkt Hypercacher nicht mehr leben, sitzen in Pariser vierzehn Komplizen auf der Anklagebank.

Aus der Geschichte wird aber jetzt Aktualität. Mitten im Prozess griff ein junger Pakistani die vermeintliche – in Wahrheit verlassene – Charlie-Redaktion an. Dann ermordete ein Tschetschene im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine den Geschichtslehrer Samuel Paty, der zum Prozessbeginn die Mohammed-Zeichnungen zur Debatte gestellt hatte. Die Gerichtsverhandlung ging daraufhin noch einige Tage weiter, wurde dann aber eingestellt. Offiziell, weil ein Angeklagter positiv auf das Coronavirus getestet worden war.

Lage beruhigen

In Wahrheit wollte das Gericht mit der Unterbrechung die Lage beruhigen. In Frankreich wogt seit der Enthauptung Patys die Debatte über den Sinn der Karikaturen oder zumindest ihrer Publikation. Ein Beispiel ist eine erschreckende Umfrage, laut der 57 Prozent der jungen Muslime das islamische Recht der Scharia über die republikanische Republik stellen. Womit diese unter 25-Jährigen wohl vor allem zum Ausdruck bringen wollen, dass die bewusst unflätigen Zeichnungen die inhärente Gotteslästerung nicht rechtfertigen. Aber trotzdem.

Dünnhäutiger Macron

Im arabischen Raum halten sich zudem Boykottaufrufe gegen französische Produkte. Präsident Emmanuel Macron ist dort zu einem Feindbild geworden. Auch in britischen und amerikanischen Medien – die ein "multikulturelleres" Verständnis von Laizismus haben – gab es Kritik an der strikten Trennung von Kirche und Staat in Frankreich; dünnhäutig geworden, wirft ihnen Macron vor, sie legitimierten indirekt die Gewalt gegen Charlie oder Lehrer.

Am Samstag eskalierte die Beziehung zu Pakistan, als Menschenrechtsministerin Shireen Mazari Frankreich vorwarf, es mache mit den Muslimen, was die Nazis den Juden angetan hätten. Junge Muslime müssten in Frankreich eine Identitätsnummer tragen wie die Juden früher den gelben Stern.

Woher Mazari diese falsche Behauptung genommen hatte, ist schleierhaft. Der Vorfall macht hingegen klar, welch unglaubliche Sprengkraft die Charlie-Karikaturen haben.

Eigenartige Stimmung

Frankreich wird sich erst gerade bewusst, dass diese Zeichnungen nicht nur am Ursprung der schweren Terrorwelle von 2015 und 2016 standen, also die Attentate auf Charlie Hebdo, den Pariser Musikclub Bataclan sowie die Strandpromenade von Nizza – auch jetzt bewirkten sie wieder Anschläge in Frankreich und darüber hinaus.

Der – vollständig gefilmte – Charlie-Prozess geht deshalb in einer eigenartigen Stimmung weiter: Das gesellschafts- und auch geopolitische Umfeld überlagert völlig den eigentlichen Verhandlungsgegenstand der Terrorbeihilfe. Die elf anwesenden Angeklagten tun das Übrige, um die historische Dimension des Prozesses zu bestreiten: Sie behaupten, von den terroristischen oder auch nur islamistischen Motiven der drei Attentäter Saïd und Chérif Kouachi und Amédy Coulibaly keine Ahnung gehabt zu haben.

"Bandit", kein "Islamist"

Bei einem fast schon surrealen Auftritt erklärte einer der Angeklagten laut und stolz, er sei kein Islamist: "Ich bin ein Bandit!" Fünfmal am Tag zu beten hindere ihn nicht daran, Leute zu betrügen. Weniger redselig war er zum Thema seines gescheiterten Versuchs, 2015 nach Syrien einzureisen.

Der Staatsanwalt dürfte wegen Zugehörigkeit zu einer Terrorvereinigung teils lebenslängliche Haftstrafen verlangen. Das Urteil soll am 4. Dezember erfolgen.

Erneute Unterbrechung

Ob sich dieser Zeitplan ausgeht, wurde am Montag fraglich. Da musste der Prozess wieder unterbrochen worden. Bis kommenden Montag sei der seit Wochen unterbrochene Prozess erneut ausgesetzt, teilte die Anti-Terrorstaatsanwaltschaft mit. Das habe der vorsitzende Richter angeordnet.

Grund dafür ist, dass ein vor einiger Zeit an Covid-19 erkrankter Hauptbeschuldigter nur per Videokonferenz zugeschaltet werden sollte., weil er aus Gesundheitsgründen weiterhin nicht im Gerichtssaal erscheinen könne, wie französische Medien berichteten. Der Prozess war am Montagmorgen im Pariser Justizpalast wieder aufgenommen worden – die Verteidigung und die Nebenkläger plädierten aber für eine erneute Unterbrechung.

Die Anwältin des erkrankten Hauptbeschuldigten argumentierte, dass ein Angeklagter in der Lage sein müsse, frei mit seiner Verteidigung zu kommunizieren, wie eine Journalistin des Senders France Inter berichtete. Die Anwältin warf der Justiz außerdem vor, dass ihrem Mandanten im Gefängnis keine angemessene Pflege zu teil geworden sei. Das oberste französische Verwaltungsgericht muss nun entschieden, ob Videovernehmungen während des Prozesses zugelassen sind. (Stefan Brändle aus Paris, red, APA, 23.11.2020)