In den Straßen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba feiern Anhänger der Zentralregierung den Vormarsch der Armee.

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Zumindest auf Facebook wird über den Bürgerkrieg in der äthiopischen Tigray-Provinz aus nächster Nähe berichtet. Dort ist Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed in Kampfuniform an der Front zu sehen, ein getroffener Düsenjäger taumelt qualmend vom Himmel, und hinter der eritreischen Hauptstadt Asmara leuchtet ein mächtiger Feuerball auf.

Das Problem der eindrücklichen Fotos: Keines von ihnen ist echt, es handelt sich ausschließlich um manipulierte Fakes. Wer ein wenig von dem äthiopischen Bruderzwist weiß, hatte das auch längst geahnt: Denn der seit fast drei Wochen tobende Krieg im Norden des zweitbevölkerungsreichsten Staats Afrikas findet ohne Beobachter statt. Journalisten werden von der Kriegsarena peinlichst ferngehalten, der Zugang zum Internet ist unterbrochen, selbst das Mobilfunknetz funktioniert nicht mehr. Es ist der erste Waffengang im Cyberzeitalter, der sich unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit abspielt.

"Entscheidende Phase"

Unter solchen Umständen kann jeder alles behaupten. Mit dem Vormarsch der Regierungstruppen auf die Provinzhauptstadt Mekele sei der Krieg in eine "entscheidende Phase" eingetreten, meldet das Büro des Regierungschefs Abiy: Die beiden Tigray-Städte Aksum und Adwa seien "befreit". Mekele, das eine halbe Million Einwohner hat, werde mit Panzern und Artillerie umzingelt und beschossen, die Einwohner sollten sich jetzt in Sicherheit bringen, sekundierte ein Armeesprecher. Danach gebe es "keine Gnade" mehr.

Dagegen ist für Abiys Gegenspieler – den Chef der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF), Debretsion Gebremichael – die Provinz "zur Hölle ihrer Feinde" geworden: "Das Volk der Tigray wird sich niemals vor Eindringlingen beugen." Kenner des Landes können ihr weniger triumphal klingendes Urteil nur aus der Ferne abgeben: "Äthiopien befindet sich auf dem Weg, zum Schauplatz einer der schlimmsten humanitären Krisen dieser Welt zu werden", sagt die in Somalia geborene US-Kongressabgeordnete Ilhan Omar.

Die humanitäre Katastrophe bahnt sich bereits an der Grenze zum Sudan an. Dort treffen täglich mehrere tausend Flüchtlinge ein, vor allem Kinder. Ausgehungert, in Fetzen gehüllt und traumatisiert, berichten sie von Luftangriffen auf die Hauptstadt Mekele, vom Artilleriefeuer, das sowohl aus der im Süden gelegenen Amhara-Provinz wie aus dem nördlichen Eritrea abgefeuert werde, sowie von Massakern an Zivilisten.

Viel zu wenig Hilfe

Verzweifelt müssen sie sich um die viel zu magere Hilfe streiten, die in dem verarmten Nachbarland auf sie wartet: Die sudanesischen Behörden sind bereits mit den knapp 50.000 Schutzsuchenden heillos überfordert, die bislang eingetroffen sind. Wird ihre Zahl, wie von vielen erwartet, in den kommenden Tagen und Wochen auf mehr als 200.000 ansteigen, wäre die Katastrophe perfekt.

Außer den Reportern ist auch Hilfsorganisationen der Zugang nach Tigray verwehrt: Obwohl dort schon vor den Kampfhandlungen mehr als 100.000 Menschen versorgt werden mussten – vor allem Flüchtlinge aus Eritrea. Wie es diesen derzeit ergeht, ist genauso ein Rätsel wie das Schicksal jenes Teils der Bevölkerung, der sich nicht auf den Weg in den Sudan, sondern in die heimischen Berge machte. Oder der Einwohner Mekeles, die derzeit das Bombardement der äthiopischen Luftwaffe über sich ergehen lassen müssen.

UN-Generalsekretär António Guterres fordert seit Tagen einen "humanitären Korridor" in die Provinz. Doch auch diese Forderung bleibt folgenlos, ebenso wie die Forderung eines Waffenstillstands an Friedensnobelpreisträger Abiy, der den kurz bevorstehenden Sieg der Regierungstruppen verspricht.

Für realistisch hält das keiner: In einem vertraulichen Bericht warnen die Vereinten Nationen vor einem langen Krieg. Einige der wenigen authentischen Bilder aus der umkämpften Provinz landeten kürzlich bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI): Mit Handys aufgezeichnete Videos, die bis zu 500 in den Straßen des Städtchens May Cadera verstreut liegende Tote zeigen. AI-Angaben zufolge handelt es sich um Amharer, die der "ethnischen Säuberung" zum Opfer gefallen seien – die TPLF-Führung dementiert das allerdings. Die Uno-Menschenrechtskommission will dem "Kriegsverbrechen" nachgehen. Doch auch das muss warten, zumindest bis die Kämpfe aufgehört haben. Schon werden Stimmen laut, die hier vor einem ähnlichen Horrorszenario wie vor 30 Jahren in Jugoslawien warnen: "Es handelt sich um einen sinnlosen Bürgerkrieg, der das gesamte Horn von Afrika in einen geopolitischen Albtraum zu verwandeln droht", meint Rechtsprofessor Awol Allo.

Auch Eritrea mischt mit

Tatsächlich hat der Konflikt auch schon auf andere Staaten übergegriffen. Außer dem Sudan ist auch Eritrea verwickelt: Nach Angaben des TPLF-Chefs Debretsion schickte der nördliche Nachbar vierzehn Divisionen nach Tigray. Die TPLF feuerte in der vergangenen Woche vier Raketen auf die eritreische Hauptstadt Asmara ab: Eine Reaktion des Nachbarn blieb zumindest bislang noch aus.

Auch Somalia bekommt den Konflikt im hunderte Kilometer entfernten Tigray zu spüren. Addis Abeba zog mehrere Bataillone aus Amisom, der Mission der Afrikanischen Union in Somalia, ab, weil sie diese für ihren Krieg in der aufständischen Provinz braucht. Auf Somalia könnte sich das fatal auswirken.

Die größte Gefahr eines Flächenbrands geht allerdings von Äthiopien selbst aus – und zwar den Volksgruppen, die wie die Tigray mit Abiys Zentralisierung des föderalen Staats nicht einverstanden sind. Vor allem die Oromo, die mit über 35 Prozent größte Volksgruppe des Landes: Sie fühlen sich schon lange unfair behandelt. Ihre Proteste brachten vor zweieinhalb Jahren den Oromo Abiy zur Macht: Inzwischen fühlen sich jedoch viele von ihnen verraten. Geht Abiy aus dem Konflikt in Tigray geschwächt hervor, droht ihm die nächste, noch wesentlich verheerendere Rebellion. (Johannes Dieterich, 22.11.2020)