Der britische Bestsellerautor erledigt seine Recherchen selbst.

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In seinem neuen Roman Vergeltung erzählt der britische Bestsellerautor Robert Harris von der Spätphase des Zweiten Weltkriegs 1944: Die Nationalsozialisten greifen London mit ihren neuartigen V2-Raketen an, die sie von der niederländischen Küste aus abschießen. Harris’ Hauptfiguren sind ein deutscher Raketeningenieur und auf britischer Seite eine junge Frau aus einem militärischen Hilfstrupp, die mit ihren Berechnungen der Flugbahn der Rakete auf die Abschussplätze rückschließen soll.

STANDARD: Ihr Roman wurde von einer realen Biografie angestoßen. Die Idee kam Ihnen am 5. September 2016, damals lasen Sie in der "Times" den Nachruf auf Eileen Younghusband …

Harris: … die 95-jährig gestorben war. Im Zweiten Weltkrieg hatte sie als Nachrichtenoffizierin gedient, darunter auch einige Monate im belgischen Mecheln. Acht junge, mathematisch begabte Frauen sollten dort der Royal Air Force dabei helfen, die Startplätze für die deutsche V2-Rakete ausfindig zu machen und zu zerstören. Davon hatte ich noch nie gehört, das interessierte mich.

STANDARD: Als Gegenpol zu ihr haben Sie einen Ingenieur und Freund des berühmten Raketenpioniers Wernher von Braun erfunden. Dieser Rudi Graf wird als zerrissener Charakter geschildert: begeistert von der neuen Technik, gleichzeitig Deutschlands Niederlage herbeisehnend.

Harris: Mich interessierte der faustische Pakt: Die Wissenschafter stellten ihr Genie in den Dienst eines Verbrecherregimes. Was hat das mit diesen Menschen gemacht? Denn ohne Zweifel brachte der Krieg enormen technischen Fortschritt mit sich, von Brauns Team läutete das Zeitalter der Raumfahrt ein. Zugespitzt gesagt: Ohne von Braun – und also indirekt: ohne Hitler – wären wir nicht zum Mond gekommen.

STANDARD: Stimmt der Eindruck, dass Sie diesmal mehr sachliche historische Informationen geben als in früheren Romanen? Kommt das aus diesem Zwiespalt?

Harris: Über von Braun selbst sowie über die technischen Details und die Entwicklung der V2 ist natürlich viel bekannt. Soweit ich weiß, gibt es aber nur ein einziges Buch mit Interviews der Beteiligten, die damals die Raketen aus den Wäldern um Den Haag abgeschossen haben. Und über das Fernduell zwischen diesen Männern an der niederländischen Ärmelkanal-Küste und der britischen Radarstation in Belgien gibt es fast keine Literatur. Dabei zeigt dieser kaum erforschte Aspekt des Krieges die moderne Welt, mit der die Menschen plötzlich konfrontiert waren. Panzer und Flugzeuge kannten sie schon aus dem Ersten Weltkrieg. Radar, fliegende Bomben, Raketen – das war brandneu.

STANDARD: Immer wieder handeln Ihre Bücher vom Zweiten Weltkrieg, den Jahren davor und danach. Warum?

Harris: Die Frage wird mir oft gestellt, meist in etwas maulendem Tonfall: Schon wieder Krieg! Ich möchte solchen Leuten antworten: Warum wollen Sie sich nicht damit beschäftigen? Schließlich leben wir bis heute in der Welt, die der Krieg geschaffen hat, einschließlich der Politik. In meinem Land jedenfalls sind die diversen Narrative, auch Mythen zum Zweiten Weltkrieg, weitverbreitet.

STANDARD: Und Sie wollen die ausräumen?

Harris: Man hat den V2-Teams haarsträubende Erfolgsmeldungen über die Verheerungen in London vorgegaukelt. Der dort entstandene Schaden war schlimm, hatte aber natürlich keinerlei Auswirkung auf den Kriegsverlauf. Umgekehrt wurde den Frauen der britischen Radarstation weisgemacht, sie seien bereits am ersten Tag ihrer Bemühungen erfolgreich gewesen. In Wahrheit wurde bis Kriegsende keine einzige Abschussrampe zerstört. Als ich anfing zu recherchieren, schien es um die Geschichte eines triumphalen Erfolgs zu gehen. Stattdessen handelt der Roman nun von der Vergeblichkeit des Krieges.

STANDARD: Wie sehen Sie die Zukunft der deutsch-britischen Beziehungen, über deren Geschichte Sie immer wieder schreiben?

Harris: Bei meinen Recherchen stieß ich auf viele Leute hier in London, die sich an V2-Attacken erinnerten. Im Großraum Den Haag begegneten mir jene, die sich an die Abschussteams erinnerten. Ich empfinde die V2 als immerwährende Mahnung daran, wohin Nationalismus führen kann. Es wäre wirklich gut, wenn mehr Leute in meinem Land sich daran erinnern würden. Wir befinden uns in einem Zeitalter wie vor dem Ersten Weltkrieg. Es existiert da so ein Gefühl, man müsse mal wieder seine Grenzen austesten. Und unsere bestehenden Institutionen wie EU oder Nato, die seien doch alle sehr langweilig. Ich bin da ganz anderer Meinung. Wir tun gut daran, uns der Weisheit solcher Institutionen zu versichern, die die frühere Generation aufgebaut hat.

STANDARD: Sie haben sich immer wieder empört über Brexiteers wie Premierminister Boris Johnson geäußert: Durch deren kruden Nationalismus stünden britische Tugenden wie Toleranz, Höflichkeit, Pragmatismus auf dem Spiel.

Harris: Ich fürchte, der Brexit macht vieles kaputt. Es führt ja kein Weg zurück, das wollen viele noch nicht wahrhaben. Das politische Projekt Europa ist für eine Generation von der britischen Tagesordnung verschwunden, die rechtsnationalistischen Kräfte haben gewonnen.

STANDARD: Wie wird sich Großbritannien nach dem endgültigen EU-Austritt positionieren?

Harris: Der Brexit stellt eine Etappe dar auf dem Weg zu etwas, von dem keiner so recht weiß, was es ist. Wofür steht unser Land? Was wollen wir erreichen? Darauf gibt es keine Antwort. Ich will mein Land nicht kleinreden, aber ich fürchte eine Entwicklung wie in Polen oder Ungarn: die Rechte nationalistisch, die Linke uneinig und zerrissen zwischen der patriotischen Arbeiterschicht im Norden und den irgendwelchen Moden nachjagenden Angestellten im Süden, dazu die stärker werdenden Spannungen zwischen England und Schottland – ein geografisch und gesellschaftlich geteiltes Land. Das macht mir große Sorge. (Sebastian Borger aus London, 23.11.2020)