Die App Snapchat, mit der sich selbst löschende Nachrichten versandt werden können, spielt in einem Vergewaltigungsprozess in Wien eine nicht unwichtige Rolle.

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Wien – Staatsanwältin Anja Oberkofler fasst die Sachlage in ihrem Schlussvortrag recht präzise zusammen: "Wie so oft steht Aussage gegen Aussage." Die Anklägerin ist dennoch überzeugt, dass der 20-jährige Herr S. am 12. Mai die 16 Jahre alte M. vergewaltigt hat. "Sie war interessiert an dem Angeklagten. Und sie ist ziemlich naiv in die Situation gegangen, aber das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen", führt Oberkofler aus.

Was ist passiert? Der unbescholtene Angeklagte und M. lernten einander im virtuellen Raum kennen – primär kommunizierte man via Snapchat, einem bei jungen Menschen populären Programm, das Nachrichten nach wenigen Sekunden löscht. Der durchaus gutaussehende S., der sich nicht schuldig bekennt, erzählt, dass er mit dem Mädchen etwa sechs Wochen vor dem angeklagten Vorfall in Kontakt gekommen sei.

"Sie hatte dann einen Freund, da ist der Kontakt abgebrochen. Nach einem Monat hat sie dann auf eine meiner Snapchat-Storys geantwortet." Man vereinbarte am Donnerstag oder Freitag für Dienstag ein Treffen in der Wohnung eines Freundes des Angeklagten. Auch über das Wochenende blieb man in Kontakt.

"Leicht pervers gesnapt"

"Wir haben so leicht pervers gesnapt", formuliert es der Angeklagte. Eines der dabei ausgetauschten, sich serienmäßig selbst zerstörenden Bilder kann er vorlegen: Es zeigt M. in Top und kurzem Rock ohne Kopf. Auch er habe einschlägige Bilder übermittelt. Dass er das Foto von M. mit seinem zweiten Mobiltelefon abgelichtet hat, sei Zufall gewesen, beteuert er.

Das Mädchen habe ihm nämlich auch am Sonntag und Montag weitere Aufnahmen gesandt, die zum Teil deutlich freizügiger gewesen seien. Man habe sich auch über Präferenzen beim Sex unterhalten. "Sie hat geschrieben, es gefällt ihr, wenn man sie würgt und an den Haaren zieht", behauptet der Angeklagte.

Dienstagnachmittag sei er nach der Arbeit in die Einzimmerwohnung des Freundes gefahren, habe geduscht und nur mit einer Short bekleidet auf die 16-Jährige gewartet. Als sie erschien, habe man zunächst geredet, irgendwann habe sie sich zu ihm ins Bett gelegt, man habe sich geküsst und berührt.

Empörung über Promiskuität

Dann kam die Sprache auf das Thema sexuelle Erfahrung. "Als ich sagte, dass ich schon 60 Frauen hatte, ist sie aufgesprungen und hat geschrien: 'Du bist urwiderlich, ein Schwein!'"

Die Situation habe sich aber wieder beruhigt, man begann erneut, Zärtlichkeiten auszutauschen, und – so die Darstellung des Angeklagten – er zog dem Mädchen den BH und das Poloshirt aus. Dem Gericht konnte er sogar ein unscharfes Foto dieser Situation übermitteln. "Das habe ich unabsichtlich gemacht, als ich eine App öffnen wollte", erläutert der Angeklagte.

Im Zuge des körperlichen Näherkommens habe er M. "ganz leicht gewürgt", gibt S. zu. Da sie ihm ja im Vorfeld verraten habe, dass ihr das gefalle. Bald darauf sei sie aber wegen seiner 60 Frauen wieder aufgebracht gewesen und habe herumgeschrien, dass er ein Arschloch sei. "Bist du nur gekommen, um zu streiten?", habe er gefragt und das Interesse verloren. Auch davon hat er ein Video: Zu hören ist eine Frauenstimme, die etwas mit "streiten" sagt, worauf eine Männerstimme etwas wie "zuck aus" antwortet. Anschließend sei M. gegangen.

Angeklagter sieht keine Verletzungsspuren

Die Privatbeteiligtenvertreterin Sonja Scheed, die für ihre Mandantin 1.100 Euro Schadenersatz und Schmerzensgeld will, lässt dem Angeklagten ein Farbfoto des Halses von M. vorhalten, das im Krankenhaus angefertigt wurde. "Kommt das von leichtem Würgen?", will sie bezüglich der Druckstellen wissen. "Also, ich seh da nix", kann S. mit dem Vorhalt nichts anfangen. Laut Spital hatte M. Würgemale, leichte Bissspuren und Kratzer. Sowohl an der Bissspur als auch an den Brustwarzen des Mädchens wurde die DNA des Angeklagten sichergestellt. Auch der Biss sei im Zuge einer Neckerei entstanden, beteuert der Angeklagte.

Die Vorführung der auf Video aufgenommenen kontradiktorischen Einvernahme sowie der persönliche Auftritt von M. finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Ihre Darstellung der Ereignisse kann man daher nur aufgrund der Anklage und der Äußerungen des Verteidigers Mirsad Musliu rekonstruieren.

Kaputter Fernseher

Aus Sicht von Staatsanwältin Oberkofler habe das Mädchen eben grundsätzlich Interesse an S. gezeigt, es sei aber auch klar gewesen, dass es beim ersten Treffen keinen Sex geben würde. Ausgemacht sei ein Nachmittag mit Filmschauen und Gesprächen gewesen. Als sie eintraf, habe ihr der Angeklagte bereits mit nacktem Oberkörper die Tür geöffnet und gesagt, das TV-Empfangsgerät sei leider kaputt.

Danach habe S. vorgeschlagen zu kuscheln, M. wollte lieber reden. Er sei körperlich zudringlich geworden und habe ihr erklärt, sie solle "nicht so verklemmt sein". Obwohl sie intime Handlungen mehrmals ausgeschlossen habe, habe er seine Short ausgezogen und Oralverkehr verlangt. Als sie nicht wollte, habe er begonnen, sie zu würgen. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit habe sie ihn von sich heruntergestoßen und sei geflüchtet.

Unmittelbar danach rief sie eine Freundin an, die als Zeugin aussagt. Die schildert, M. habe "sehr aufgebracht gewirkt" und erzählt, sie habe sich mit S. getroffen und dieser habe sie gewürgt. "Er hat geglaubt, das gefällt mir", soll M. zu ihrer Freundin gesagt haben. Vom versuchten Oralverkehr sei nicht gesprochen worden, sie habe M. aber geraten, zur Polizei zu gehen, was diese in ihrem niederösterreichischen Heimatort tat.

Widersprüche zu pikanten Bildern

Verteidiger Musliu kommt nicht nur dieses Verschweigen des gravierendsten Vorwurfes seltsam vor, er hält die Aussage des Teenagers generell für "nicht authentisch". So beweise das vom Angeklagten vorgelegte Foto am angeblichen Tatort, dass M. sehr wohl die Chance hatte, schon früher zu gehen. Zusätzlich habe sie bei der Anzeige zunächst noch gesagt, sie habe S. nie ein erotisches Bild von sich geschickt, bei der auf Video aufgezeichneten Befragung habe sie auf Vorhalt bestätigt, eines übermittelt zu haben, und bei ihrem persönlichen Auftreten vor Gericht habe sie nun von drei Stück gesprochen.

Über das Motiv für eine falsche Darstellung der Ereignisse könne man nur spekulieren, sagt Musliu und macht genau das: Vielleicht habe sie sich ein Verhältnis mit S. erwartet und sei von dessen promiskuitiven Umtrieben enttäuscht gewesen. Oder, wie der Angeklagte selbst vermutet, sie habe plötzlich ein schlechtes Gewissen bekommen, da S. angeblich auch mit einer ihrer Freundinnen in Kontakt gewesen sei.

Der Senat braucht nur etwa 15 Minuten, um einen Freispruch zu fällen. "Mit der für eine Verurteilung in einem Strafverfahren notwendigen Sicherheit konnten wir eine Schuld nicht feststellen", begründet die Vorsitzende Adegbite-Lewy. "Es gab doch Widersprüche in der Aussage der Zeugin", führt sie aus. Staatsanwältin Oberkofler erklärt einen Rechtsmittelverzicht, die Entscheidung ist daher rechtskräftig. (Michael Möseneder, 23.11.2020)