Schmal und intim: Auf 80 Seiten sammelt Zadie Smith ihre Gedanken und Fragen zur aktuellen Zeit. In kurzen Essays kommt die Autorin vom Kleinen ins Große und scheut auch nicht vor Selbstkritik zurück.
Foto: Dominique Nabokov

Sie haben zwei Gesprächsthemen: das Wetter und schulfreie Tage. Sie sind sich einig, dass es problematisch ist, wenn der Unterricht wieder ausfällt und Kinderbetreuung gesucht werden muss. Das verbindet sie, stellt eine gewisse Symmetrie zwischen ihnen her. Eine trügerische allerdings. Denn der Unterschied ist: "Wenn die Schule von Bens Sohn schließt, ist das ein echter Notfall; für mich ist es einfach nur lästig."

Ben ist Masseur in einem Nagelstudio im Süden Manhattans. Das "Ich" ist seine Kundin und eine der bekanntesten Gegenwartsautorinnen, die Ben aber nur "Lady" nennt. Wenn sie mal einen Tag nicht arbeitet, passiert nicht viel. Bei Ben sind die Folgen fatal.

Während des ersten Lockdowns verfasste die aus London stammende und in New York lebende Autorin Zadie Smith eine 80-seitige Textsammlung. Insgesamt sind es 13 in ihrer Länge variierende Corona-Essays, wobei manche von der Zeit davor erzählen, andere sich explizit auf die Pandemie beziehen.

Bekannt für ihre Romane Zähne zeigen oder Swing Time, gewann Smith 2018 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Betrachtungen erschien diesen Herbst bei Kiepenheuer & Witsch ausschließlich als E-Book, ein der aktuellen Lage geschuldeter Umstand.

Im intimen Gedankenstrudel

Darin seziert Smith anhand scharfer Beobachtungen die aktuelle Situation, kommt vom Mikro ins Makro. Zwar spricht sie aus ihrer Perspektive, verlässt diese aber auch immer wieder und blickt kritisch auf sich selbst zurück. Es gehe uns wie einem kleinen Mops, attestiert sie da, der aus dem Wasser gezogen wird und immer weiter strampelt. "Wissen wir überhaupt noch, wie man aufhört?" Entweder man schuftet in einem systemrelevanten Job oder man hält sich beschäftigt. Man bäckt, bastelt, schreibt Bücher. Und fragt sich, was man da treibt. Der Unterschied zwischen Bananenbrot und einem Roman sei nicht allzu groß, so Smith zynisch.

Die Frage des Privilegs kehrt in den Essays immer wieder und kreist wie ein dunkler Schatten über ihnen. Dennoch fächert die Hochschullehrerin diese so drängende Debatte auf, ohne moralisch zu werden: Jeden Menschen trifft diese Krise unterschiedlich hart, jeder geht anders damit um, jeder leidet anders. Dennoch verlieren manche Probleme an Bedeutung, vergleicht man sie mit "echtem Leid". Manche können Witze darüber machen, andere schlittern an ihre Grenzen.

Zwar entnimmt Smith den Titel der Selbstbetrachtungen von Marc Aurel, bei dem sie zu Beginn der Krise Hilfe sucht, geht aber nicht weiter darauf ein. Vielmehr entspinnt sie daraus die Idee, Selbstgespräche zu führen. Der Originaltitel Intimations umschreibt das greifbarer. Oft sind es persönliche und alltägliche Gedanken, die schließlich zu einem größeren Netz verknüpft werden.

So entspinnt sich aus einer zufälligen Begegnung mit einem Provokateur im Park oder einer Fruchtbarkeitsgöttin im Bus ein daraus abgeleiteter Gedankenstrudel. Diesem gibt sich Smith hin, ohne zu einem Ergebnis kommen zu wollen.

Das eigentliche Gift

Sehr stark, wenn auch am drückendsten, sind die Stellen, an denen Smith politisch wird: Wenn Trump gesichtslos bleibt und nur als "Er" bezeichnet wird. Wenn diese Krise wie ein Brandbeschleuniger für das gespaltene Land wirkt:

"Für viele Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner war der Krieg schon immer da." Smith folgert, dass Verachtung aber das eigentliche Virus ist. George Floyd verstarb an der giftigsten Ausprägung. Dass es jemals einen Impfstoff gegen Rassismus geben wird, daran glaubt Smith nicht mehr.

Diese resignierten Gedankengänge werden von fast neurotisch beobachteten Szenen durchbrochen, wie kleine Hoffnungsfetzen schimmern sie dazwischen: An einer Stelle beschreibt die Autorin ihre Nachbarin Barbara und wie diese jeden Tag ihr kleines, etwas bissiges Hündchen Beck ausführt. Dies tut sie mit obligatorischer Zigarette in der Hand und auf einen Rollator gestützt.

Als Smith – wie so viele andere – die Stadt fluchtartig verlässt, sagt die zurückbleibende Barbara und ideale "Großstadtbewohnerin": "Es gibt nichts, wovor wir uns fürchten müssen – wir werden das durchstehen, wir alle, zusammen." (Katharina Rustler, 24.11.2020)